Es beginnt mit einem Traum: Patrice Killoffer, französischer Comiczeichner und Mitbegründer des Verlages L'Association, schließt, nachdem er von seiner Montrealreise zurückkehrt, seine Pariser Wohnung auf. Mit Angstschweiß auf der Stirn tritt er dem unerledigten und schmutzig zurückgelassenen Geschirrberg in seiner Spüle entgegen. Und das Geschirr… ja, es nimmt Besitz von ihm und lässt durch eine Art mutagenen Verschmelzungsprozess Killoffers Kopf eine Vielzahl kleiner Köpfe entsteigen.
Im Traum passiert das sogar bildlich, aber ohne sich übertrieben mit Traumanalyse beschäftigt zu haben, kann man zweifelsfrei das Besitzergreifen mit dem schlechten Gewissen des Träumenden gleichsetzen, dem der Abwasch einfach nicht aus dem Kopf gehen will. Aber um von der Situation, die Killoffer zu Beginn des Bandes so beschäftigt, wegzukommen, wäre es interessant, die vielen kleinen Köpfe zu thematisieren. Sie stehen für seine innere Zerrissenheit, seine vielschichtige Persönlichkeitsstruktur oder die unterdrückten Triebe. Und sie stehen für den Beginn eines wilden Psychotrips, auf den uns Killoffer mitnimmt. Der Franzose reflektiert auf kreative und sehr unkonventionelle Weise seine innere Befindlichkeit, fortan wird die Geschichte brutal, triebgesteuert, zynisch, aber auch tiefschürfend und ehrlich.
Im Restaurant, beim Einkaufen, in der U-Bahn, plötzlich sind Menschen nur noch anhand schemenhafter Umgrenzungen sichtbar und allein die zu erobernden weiblichen Geschöpfe sehen real aus. Killoffer analysiert durch Textabdrucke sein Verhalten, dabei begleiten ihn Duplikate seiner selbst, die ihm vorleben, was hätte sein können, wenn er sich hier und da anders entschieden hätte. Wäre er seinem Lustgefühl nachgekommen, womöglich hätte irgendeine Frau ihn heute nach Hause begleitet, so muss er sich halt stattdessen einen Pornofilm ansehen.
Und plötzlich bevölkert eine Vielzahl von Killoffers die Wohnung, sie rauchen, trinken, ficken, kotzen. Als ob der Zeichner seine ansonsten unterdrückten schlechten Eigenschaften mal alle auf einmal ausleben und alle Konventionen vergessen will. Doch seine ungezügelten Trieb-Klone nehmen nicht nur überhand, sondern überfluten mit ihrer Dominanz Killoffers Wesen. Die Selbstbetrachtung endet im blutigen Gemetzel, das die Orgie abrupt beendet und einen aus dem Kompromiss der Persönlichkeiten hervorgehenden, normalen Killoffer überleben lässt.
Sechshundertsechsundsiebzig Erscheinungen von Killoffer ist ein hervorragendes Album, das sehr hart über den Macher selbst urteilt. Es offenbart alle auffindbaren Aspekte eines menschlichen Geistes, indem sie ihnen zur gleichen Zeit freien Lauf lässt. Die Spaltung der eigenen Persönlichkeit dürfte in Comicform wohl ein Novum darstellen, gerade das macht diesen Comic als vorsätzliche Rebellion gegen die Zunahme an autobiografischen Comics und als Denkanstoß für ungewöhnlichere frische Erzählungen so interessant.
Killoffer inszeniert seine Idee clever, indem er seine menschlichen Duplikate hart miteinander konkurrieren lässt, nur um den innerpsychischen Kampf im Alltag zu versinnbildlichen. Letztlich war alles nur Imagination, Gedankenspiel, und der Protagonist steht wieder daheim vor seinem Abwasch, dem normalen Horror des Alltags. Ein großes Thema also, das mit dem Medium Comic in mehr als einer Hinsicht spielt und auch grafisch fasziniert, berührt und Ekel erzeugt. Ein viel größeres Kompliment kann man einem Zeichner wohl auch kaum machen. Einer der 676 Killoffers wird mir da schon Recht geben…
Sechshundertsechsundsiebzig Erscheinungen von Killoffer
Reprodukt, März 2007
Text/ Zeichnungen: Killoffer
48 Seiten, schwarzweiß, Klappenbroschur, 12,00 Euro
ISBN 978-3-938511-33-6