Mind the Gap

Mind the Gap 24: Previews 06/2006

Neue US-Comics müssen von Händlern jeweils etwa zwei Monate vor Erscheinen vorbestellt werden, was über den Katalog Previews geschieht, in dem die meisten US-Verlage ihre Produkte anbieten. Das Ziel von „Mind the Gap“ ist, euch bei dem Wust an monatlichen Veröffentlichungen einen groben Überblick zu verschaffen und die interessantesten Neuerscheinungen aus Previews hervorzuheben.

Wenn der eine oder andere Tipp euer Interesse weckt, könnt ihr den entsprechenden Comic vorbestellen, indem ihr die Bestellnummer an den Comic-Händler eures Vertrauens weitergebt.

Vorbestellungen für August 2006

AGENTS OF ATLAS #1 (von 6)
Marvel Comics | 32 Seiten | $ 2.99 | farbig | JUN06 1943

Die Vereinigten Staaten der Fünfziger: Es regiert der Haudegen „Ike“ Eisenhower, Senator McCarthy ballert mit roten Farbpatronen rum und der berüchtigte Dr. Fredric Wertham dient als Gallionsfigur für einen politisch und medial groß angelegten Kreuzzug gegen allerhand Jugendgefährdendes. Schon bald ist der Öffentlichkeit klar: Comics machen Kinder dumm, schwul und kriminell.

In dieser heimeligen Atmosphäre wird von Marvel Comics – damals als Atlas Comics bekannt – unter anderem Yellow Claw herausgegeben. In der Serie misst sich der politisch korrekte chinesisch-amerikanische FBI-Agent Jimmy Woo in bester 007-Manier mit dem politisch nicht ganz so korrekten chinesischen Oberschurken Yellow Claw. Außerdem über verschiedene Titel des Atlas-Programms – die wenigsten davon dem Superhelden-Genre zuzuordnen – verstreut zu finden sind die Figuren Gorilla Man, Namora, Human Robot, Venus und Marvel Boy. Aus diesem Fundus bedient sich Agents of Atlas, eine Miniserie von Autor Jeff Parker (The Interman) und Zeichner Leonard Kirk, einem alten Hasen der US-Branche, dessen Arbeit zuletzt in DCs Bloodhound und Top Cows Freshmen zu sehen war.

Marvels Atlas-Epoche ist bisher noch relativ wenig aufgearbeitet worden. Sie liegt irgendwo im Niemandsland zwischen den Vierzigern, dem so genannten „Golden Age“ der US-Comics, in denen frühe Superhelden wie Human Torch, Captain America und Sub-Mariner sich mit Nazis prügelten, und den Sechzigern, dem „Silver Age,“ als Stan Lee, Jack Kirby und Steve Ditko Dauerbrenner wie die Fantastic Four, Hulk, Spider-Man oder Thor schufen. Irgendwie sind die Atlas-Geschichten auch heute noch ein Teil des Marvel-Universums, irgendwie aber auch nicht – es gibt in den Marvel-Comics der letzten 45 Jahre nur wenige, dazu oft widersprüchliche Verweise auf diesen Zeitraum.

Dass dieses Nischendasein eines gewissen Charmes nicht entbehrt, dessen ist sich Parker durchaus bewusst. Er will Agents of Atlas als Mystery-Thriller verstanden wissen, der in der Pulp-Tradition der Fünfziger steht. Topagent Jimmy Woo, mittlerweile nicht mehr beim FBI, sondern für S.H.I.E.L.D. tätig, braucht Verstärkung und trommelt ein paar Bekannte aus den guten alten Zeiten zusammen. Der genaue Grund bleibt mysteriös. Die Agenten von Atlas sind für den Autor dabei nicht in erster Linie Superhelden, sondern Figuren, wie man sie aus trashigen alten Science-Fiction-Filmen kennt. Zwar wird das Konzept von Redakteur Mark Paniccia als Kreuzung aus Justice Society und Doom Patrol umrissen, aber man geht wohl nicht fehl, wenn man grobe Parallelen zu Tom Strong oder Planetary zieht.

Parker hat sich jedenfalls viel vorgenommen, denn für das von unverhohlenem Rassismus geprägte Erscheinungsbild der „Gelben Kralle“ will er eine plausible, den Zeiten angepasste Erklärung abliefern, ebenso wie für den Status der restlichen Figuren im modernen Marvel-Universum.

Links:
Wikipedia: Atlas Comics Interview mit Mark Paniccia
Interview mit Jeff Parker (Comic Book Resources)
Interview mit Jeff Parker (Newsarama)
Interview mit Leonard Kirk
“Agentenprofile“: Jimmy Woo, Marvel Boy, Namora
Temple-of-Atlas-Blog

ATHENA VOLTAIRE: FLIGHT OF THE FALCON #1
Ape Entertainment | 48 Seiten | farbig | $ 4.50 | JUN06 2854

Gewollt pulpy geht’s auch in Athena Voltaire: Flight of the Falcon zu. Ursprünglich als Webcomic veröffentlicht (und als solcher 2005 für einen Eisner-Preis nominiert), erzählt die Serie von Autor Paul Daly, Zeichner Steve Bryant und Colorist Chad Fidler augenzwinkernde Abenteuergeschichten à la Indiana Jones – oder, wie Warren Ellis es ausdrückt, „so ähnlich wie Die Mumie oder Van Helsing, bloß in gut“.

Die Schöpfer haben offenbar keine Hemmungen, Freunde des Genres mit allem zu bedienen, was dazugehört: Kulisse der Handlung ist der Zweite Weltkrieg, die Gegenspieler sind folgerichtig Nazis, die – natürlich – mit einer okkulten Wunderwaffe (in diesem Fall: ein verlorenes Volk von Supermenschen, das im immer gerne bemühten hohlen Inneren der Erde leben soll) die Weltherrschaft an sich reißen wollen. Tah-ta-ta-taaah, tah-ta-taaa…

Der Neustart der Serie bei Ape Entertainment ist übrigens nicht der erste Versuch, Athena Voltaire auf Papier zugänglich zu machen. Dass beim letzten Mal – vor noch nicht all zu langer Zeit – nach nur einer Ausgabe schon wieder Schicht im Schacht war, lag allerdings nicht etwa an schwachen Verkaufszahlen, sondern daran, dass der damalige Verlag Speakeasy sank- und klanklos versank. Die erste bei Ape Entertainment erscheinende Nummer umfasst nun nicht nur das schon bekannte Material, sondern auch die bisher unveröffentlichte zweite Ausgabe.

Links:
Athena-Voltaire-Website
Vorschau: 22 Seiten von Athena Voltaire: Flight of the Falcon #1
Interview mit Paul Daly, Steve Bryant und Chad Fidler
Interview mit Paul Daly und Steve Bryant

BADLANDS (Paperback)
AiT/PlanetLar | 144 Seiten | schwarzweiß | $ 12.95 | JUN06 2791

Dass Steven Grant nicht nur seit Jahren eine lesenswerte Kolumne nach der anderen produziert, sondern auch ein gestandener Comic-Autor mit jahrzehntelanger Erfahrung ist, dürfte sich herumgesprochen haben. Badlands, gezeichnet von Vince Giarrano, wurde erstmals 1991 von Dark Horse Comics als Miniserie veröffentlicht und kam vor vier Jahren dann bei AiT/PlanetLar heraus. Jetzt gibt’s davon nochmal eine neue Auflage.

Badlands spielt im Jahr 1963 und ist ein Thriller mit dem wahren Mörder von John F. Kennedy als Hauptfigur – ganz frech nutzt Grant hier also geschickt die Mutter aller Verschwörungstheorien des 20. Jahrhunderts als Aufhänger für eine offenbar sehr gelungene Charakterstudie. Geheimtipp.

Links:
Steven Grants „Permanent Damage“

THE BOYS #1-2
DC Comics/WildStorm | je 32 Seiten | farbig | je $ 2.99 | JUN06 0242/JUN06 0243

“Diese Serie wird Preacher über-preachern“, sagt Autor Garth Ennis laut Previews-Info. „Ich liebe [The Boys]“, gibt Zeichner Darick Robertson im Interview mit The Pulse zu Protokoll, „und ich bin erleichtert und begeistert, festzustellen, dass meine Liebe zum Comic und zum Zeichnen nicht tot war, sondern bloß wiederbelebt werden musste“. An der Schaffensfreude der beiden Hauptverantwortlichen wird es bei The Boys also nicht liegen – und wenn diese Herrschaften Ennis und Robertson heißen, dann ist das eigentlich schon mehr als die halbe Miete.

Und damit nicht genug. „[The Boys] ist lustig, es ist düster und es ist clever“, sagt Robertson weiter, der es allem Anschein nach nicht erwarten konnte, endlich seinen Exklusivvertrag mit Marvel Comics hinter sich zu lassen. „Es ist meine beste Arbeit seit Jahren, und ich glaube, dass es einen neuen persönlichen Höhepunkt markiert für Garth Ennis, der über diese Geschichte ganz klar schon lange nachgedacht und etwas Großes geschaffen hat. Wenn ihr meine Arbeit mögt, dann werdet ihr The Boys lieben. Wenn ihr Garths Arbeit mögt, dann werdet ihr The Boys lieben. Wenn ihr uns als Team mögt, dann werden wir eure Erwartungen voll erfüllen.“ Hört, hört.

Was genau lässt den vielseitigen Kalifornier so ins Schwärmen geraten? Prämisse: ‚Die Jungs‘ sind eine von der US-Regierung finanzierte Organisation von besonders starken und außergewöhnlich schlauen Burschen, die eine Weltpopulation von 250.000 Supermenschen unter Kontrolle halten sollen. Rumms. Hört sich im ersten Moment eigentlich eher ernüchternd an, und nicht gerade nach einem Konzept, das nach einer fortlaufenden Serie schreit, geschweige denn, das Preacher das Wasser reichen kann. Hat Ennis nicht schon mit The Punisher oder mit seinen The-Authority-Ablegern genug Ventile, seine Superheldengags an den Mann zu bringen?

Aber lassen wir die Skepsis nicht davon galoppieren. Wenn der Mann aus Irland tatsächlich so lange über The Boys nachgedacht hat, wie Robertson behauptet, dann darf man im Jahre Sechs nach Preacher vielleicht doch mal eine ernsthaftere Abhandlung des Themas erwarten, die Ennis‘ Abneigung gegen das Superhelden-Genre vertiefen soll – die Dissertation zum Kneipenwitz, sozusagen.

Links:
Interview mit Darick Robertson (The Pulse)
Interview mit Darick Robertson (Wizard)

BROWNSVILLE (Paperback)
NBM Publishing | 208 Seiten | schwarzweiß | $ 12.95 | JUN06 0243

Autor Neil Kleid und Zeichner Jake Allen liefern mit Brownsville eine Mafia-Saga ab, die sich nicht mit den in der Populärkultur reichlich behandelten italienischen ‚Mob‘ beschäftigt, sondern – wie schon Judd Winicks Zwölfteiler Caper von 2003/2004 – mit den jüdischen Zeitgenossen der Cosa Nostra.

Der Titel „Brownsville“ bezieht sich hier nicht auf die texanische Stadt gleichen Namens, wie man vielleicht vermuten könnte, sondern auf eine Wohngegend des New Yorker Bezirks Brooklyn, die zur Zeit der Handlung – den 1930er Jahren – überwiegend von Juden bewohnt wurde. Kleid beruft sich mit seiner Geschichte zum Teil auf reale Mafiagrößen und Begebenheiten, wie beispielsweise ‚Murder Incorporated,‘ eine aus Juden und Italienern bestehende Gruppe von Augtragsmördern, die zur damaligen Zeit für ihre besondere Effizienz und Tüchtigkeit bekannt war.

Der Band ist zwar bereits seit April 2006 zu haben, bisher aber nur in gebundener Form. Anlässlich des Erscheinens der etwas erschwinglicheren Paperback-Variante lohnt sich deshalb für alle, die mit Gangster-Epen etwas anfangen können, vielleicht nochmal ein Wink mit dem Zaunpfahl.

Links:
Interview mit Neil Kleid

C’EST BON ANTHOLOGY VOL. 1 (Paperback)
C’est Bon Kultur | 140 Seiten | schwarzweiß | $ 21.95 | JUN06 2993

Der Kleinverlag C’est Bon Kultur stammt nicht etwa aus dem deutsch-französischen Grenzgebiet, sondern aus dem Land der tausend Seen. Dass die Schweden außer Knäckebrot, Stellungsfußball und Death Metal noch was anderes können, behauptet zum Beispiel Warren Ellis, der während eines Aufenthalts auf dem europäischen Festland kürzlich eine Veröffentlichung von C’est Bon Kultur geschenkt bekam und diese in den höchsten Tönen lobte.

Für die C’est Bon Anthology haben sich die Nordmänner und -frauen die Mission auf die Fahnen geschrieben, die Kunstform Comic durch Experimente jenseits der kahlgetretenen Trampelpfade nach vorn zu bringen, was ja schon mal nicht der schlechteste Ansatz ist. Richten soll’s – unter einem Cover des Amerikaners Brian Wood – eine stattliche Ansammlung internationaler Kreativer, zu denen neben Ho Che Anderson und R Kikuo Johnson unter anderem auch die Deutschen Arne Bellstorf und Martin Tom Dieck gehören.

CSI: DYING IN THE GUTTERS #1 (von 4)
IDW Publishing | 32 Seiten | farbig | $ 3.99 | JUN06 3181

Eigentlich ist an der x-ten Comic-Adaption eines Fernsehkrimis ja nicht viel Spektakuläres. Anders als die Konkurrenz, die mit Cover-Varianten und ähnlich einfallslosen und marktverzerrenden Gimmicks um sich wirft, um ihre Verkaufszahlen aufzubessern, hat man sich bei IDW für den neuesten CSI-Ableger aber mal was anderes einfallen lassen. Der Tatort: eine Comic Convention in Las Vegas. Das Opfer: Fünf-Sterne-Gerüchtekoch Rich Johnston, der sich mit seiner Tratschkolumne „Lying in the Gutters“ bekanntermaßen auch im richtigen Leben nicht nur Freunde macht.

Der fiktive Johnston wird hier totgeschrieben respektive -gezeichnet von Steven Grant und Stephen Mooney, und die Liste der prominenten Comic-Schaffenden, die ihre Namen und Gesichter als Tatverdächtige zur Verfügung stellen, ist lang: Joe Quesada, Ed Brubaker, Marc Silvestri, Robert Kirkman, Ben Templesmith, Peter David und Greg Rucka werden im Werbetext aufgezählt, das Promo-Poster zeigt noch einige weitere Bekannte.

Dying in the Gutters geht als netter Gag durch. Autor Steven Grant war der erste, der zugab, dass es sich dabei um eine schamlose PR-Aktion handelt, betonte aber auch, dass er nichtsdestotrotz gleichzeitig Wert darauf gelegt hat, einen lesenswerten, stimmigen Krimi abzuliefern. Rein marketingtechnisch darf man natürlich gespannt sein, ob sich das Umwerben der Leserschaft einer beliebten Internetkolumne entscheidend auf die Absatzzahlen auswirken wird.

Links:
Rich Johnstons „Lying in the Gutters“

IRON MAN: THE INEVITABLE (Paperback)
Marvel Comics | 144 Seiten | farbig | $ 14.99 | JUN06 2026

“Ich benutze Handys und Blackberrys und Laptops, weil man davon ausgeht, dass Tony Stark dieses Zeug benutzen würde… meine Zugeständnisse an den Begriff des ‚Normalen.‘ Aber ich brauche sie nicht. […] Es gibt da draußen Individuen, die so auf gewaltsame Auseinandersetzungen mit mir fixiert sind, dass sie große Anstrengungen unternehmen, um eine herbeizuführen, etwa durch die Ermordung derjenigen, die mir nahe sind. Und all die Überzeugungen, die ich bezüglich meiner selbst und meiner sogenannten Evolution gewonnen habe… missachten sie. Sie begreifen es einfach nicht. Sie bekämpfen eine unvermeidliche Zukunft, aber sie begreifen nicht, dass ich schon dort bin… Ich bin die Zukunft. Ich dachte, ich hätte Abschaum wie [sie] hinter mir gelassen. Ich dachte, ich würde über ihm stehen. Muss ich meine Zeit wirklich in Konflikten mit diesen Leuten verschwenden?“

Wenn ich in der Vergangenheit angedeutet habe, dass sich Autor Joe Casey mit Iron Man: The Inevitable in kreativer Hinsicht – man verzeihe mir den blumigen Ausdruck – die Eier schaukelt, dann nehme ich das hiermit in aller Form zurück. Obiger Auszug stammt aus einer Schlüsselszene des fünften Kapitels der Miniserie, die im August als Sammelband erscheint. Innerhalb von drei, vier Seiten bringt Casey die Figur erstmals auf einen Nenner, der sie für mich interessant macht. In aller Fairness muss man erwähnen, dass es Warren Ellis war, der Iron Man erstmals als „Testpilot der Zukunft“ neu erfinden wollte, aber es ist erst Caseys The Inevitable (“Das Unvermeidliche“), das diese Neuinterpretation des schon vor langer Zeit eingerosteten Iron-Man-Konzepts erstmals in überzeugender Weise umsetzt.

Caseys Iron Man, grandios verwirklicht vom britischen Aufsteiger Frazer Irving (Seven Soldiers) ist ein von den katastrophalen Zuständen der Gegenwart gequälter Visionär, der mit den für ihn unerträglich primitiven und dekadenten Notwendigkeiten des 21. Jahrhunderts schon lange abgeschlossen hat und seither verzweifelt nach Wegen sucht, seiner Umwelt seine (vermeintlich) überlegenen Erkenntisse über den Gang der Dinge so zu vermitteln, dass er dafür Verständnis und Zustimmung erntet.

Links:
Interview mit Frazer Irving

THE LIFE OF POPE JOHN PAUL II IN COMICS (Paperback)
Papercutz | 96 Seiten | farbig | $ 16.95 | JUN06 3310

Der Papst ist tot, es lebe der Papst. Eine autorisierte Comic-Verwurstung Karol Wojtylas (“The Entire Story! From His Childhood in Poland to the Assassination Attempt!“) hat Marvel ja bereits 1983 feilgeboten, in Kolumbien schwingt der Gute seit 2005 als waschechter Superheld sein Zepter, und eine gewisse Ähnlichkeit zu Robert Kirkman und Tony Moores Battle Pope ist – trotz aller Leugnungen des Autors – auch nicht abzustreiten.

Die neueste Variante beansprucht nun eine Rückkehr zur Seriösität: The Life of Pope John Paul II in Comics ist die englischsprachige Veröffentlichung einer italienischen Graphic Novel aus dem letzten Jahr. Kritische Sichtweisen darf man von der „kompletten Biographie“ freilich weniger erwarten, denn das Autoren/Zeichner-Team von Alessandro Mainardi und Werner Maresta hat dafür den – pardon – Segen des Vatikans erhalten. Das äußert sich unter anderem in einem Vorwort von José Kardinal Saraiva Martins, dem Präfekten der Kongregation für Selig- und Heiligsprechungsprozesse.

Ob Schwerstversündigte oder Johannes-Paul-Fans sich die Lektüre deshalb auf ihren Ablass anrechnen lassen können, war vor Redaktionsschluss leider nicht zu ermitteln. Religiös und zeitgeistlich unbelastete Menschen werden sich das Gerät wohl allenfalls ins Klamaukschränkchen stellen wollen, sofern dort neben den Autobiographien von Dieter Bohlen und Helmut Kohl noch Platz ist.


LOST GIRLS (Hardcover)

Top Shelf Productions | 264 Seiten | farbig | $ 75.00 | JUN06 3440

Sie „nutzt ihre zierliche Tupfeltechnik, um einige der irritierendsten und brutalsten psycho-sexuellen Visionen darzustellen, die man überhaupt irgendwo zu Gesicht bekommen wird“, schrieb der englische Autor Alan Moore bereits 1983 über die Cartoonistin Melinda Gebbie aus San Francisco. (Moores Artikel „Invisible Girls and Phantom Ladies“ ist zu finden in The Daredevils #6 von Marvel UK.) Vom polnischen Pontifex zum Psycho-Porno – Herzlich willkommen zu „Mind the Gap“, verehrte Zuschauer.

Aber der Reihe nach. Moore und Gebbie sind mittlerweile ein Paar, und ihre neue Kollaboration – immerhin sechzehn Jahre in der Mache – verursacht einigen Wirbel. Nicht etwa, weil sie nur als nobles dreiteiliges Hardcover-Set im Schuber für sage und schreibe 75 Kröten zu haben ist, sondern wegen des pikanten Inhalts: In Lost Girls treffen sich Alice (die aus dem Wunderland), Wendy (die aus dem Nimmerland) und Dorothy (die aus Oz) als Erwachsene in einem schweizer Hotel des Jahres 1913 und erzählen sich dort Geschichten über ihr sexuelles Erwachen.

Moore selbst besteht darauf, Lost Girls als Pornographie zu bezeichnen. Der kauzige Brite will mit einem vielschichtigen, behutsam erzählten und literarisch anspruchsvollen Werk dazu beitragen, das Porno-Genre salonfähig zu machen, das, wie er findet, nicht immer nur auf billigen Schund hinauszulaufen braucht. Ersten Augenzeugenberichten zufolge meint er es damit auch ernst: Auf fast jeder Seite des Schinkens soll es verkehrstechnisch zur Sache gehen.

Nun ist einem neuen Werk von Alan Moore per se schon ein gewisser Medienrummel sicher, und ganz besonders natürlich, wenn man die Faktoren „Porno“ und „USA“ ins Spiel bringt. Was hier nun allerdings erschwerend hinzukommt, ist, daß Lost Girls auch sexuelle Handlungen von Minderjährigen darstellen soll – und zwar sowohl untereinander als auch mit Erwachsenen. Das schlägt Wellen: Der kanadische Comic-Fachhandel hat dem Werk bereits die Absage erteilt, und auch einige US-amerikanische Händler haben schon angekündigt, Lost Girls gar nicht oder nur unter der Ladentheke verkaufen zu wollen. Moores Verteidiger andererseits, unter ihnen Rich Johnston, wiegeln derweil eifrig ab und berufen sich auf die künstlerische Freiheit und darauf, dass Lost Girls ein reines Fantasie- und Kunstprodukt sei.

Ohne die Schwarte selbst gelesen zu haben ist es natürlich nicht möglich, zur Kontroverse konkret Stellung zu beziehen. Rechtlich jedenfalls scheint sich die „virtuelle“ Darstellung sexueller Handlungen von Minderjährigen in einer bisher nicht ausgeloteten Grauzone zu befinden, sofern der Wikipedia-Eintrag (Stand: 21.07.2006) keinen Stuss erzählt. Fest steht: Bei aller Liebe zur Kunst ist es nicht nur verständlich, sondern geboten, dass man sich einem solchen Werk erstmal kritisch und mit äußerster Skepsis nähert, auch wenn der Autor Alan Moore heißt, egal, ob es nun aus rein gesetzlicher Sicht einwandfrei ist oder nicht.

Toll finden muss man sowas auf jeden Fall nicht, insbesondere in Zeiten, wo Pädophile den Schneid besitzen, sich in Vereinen und Parteien zusammenzurotten, um die gesellschaftliche Akzeptanz ihrer „Neigung“ zu fördern. Unabhängig davon, ob die Veröffentlichung des Buchs in Deutschland legal ist, behält sich der Autor dieser Zeilen deshalb hiermit sein rechtsstaatlich zugesichertes Privileg vor, Lost Girls zum Kotzen finden und sich fragen zu dürfen, ob Moore und Gebbie im Hirn noch ganz rund laufen.

Soviel zum Rummel. Ob der Comic zu der Aufregung letztlich tatsächlich taugt oder sich alles – was ja auch schon vorgekommen sein soll – als heiße Luft erweist, werden wir in den nächsten Monaten sicher herausfinden.

Links:
Euphorische Rezensionsschnipsel
“Lying in the Gutters“ zum Thema
Newsarama: Interview mit Alan Moore, Teil 1
Newsarama: Interview mit Alan Moore, Teil 2
Newsarama: Interview mit Melinda Gebbie
Comic Book Resources: Interview mit Alan Moore & Melinda Gebbie, Teil 1
Comic Book Resources: Interview mit Alan Moore & Melinda Gebbie, Teil 2
Comic Book Resources: Interview mit Alan Moore & Melinda Gebbie, Teil 3
Wikipedia: Kinderpornographie
Lost Girls rezensiert von Neil Gaiman

PHONOGRAM #1 (von 6)
Image Comics | 32 Seiten | schwarzweiß | $ 3.50 | JUN06 1681

Musik ist Magie, und zwar nicht nur im übertragenen Sinn. Mit dieser Idee beschäftigt sich Phonogram von Autor Kieron Gillen und Zeichner Jamie McKelvie. Hauptfigur der Serie ist David Kohl, ein sogenannter Phonomancer. Was das genau bedeutet, damit will man noch nicht herausrücken, aber es läuft wohl darauf hinaus, daß ein Phonomancer wohl so eine Art Zauberer ist – nur mit Musik halt. Alles klar?

Der erste Sechsteiler – Fortsetzungen möglich – hat sich stimmungs- und stilmäßig als Inspirationsquelle die Britpop-Welle der Neunziger Jahre ausgesucht, was sich auch in den Cover-Illustrationen niederschlägt: Den Anfang macht eine Hommage an das Debütalbum von Elastica, weiter geht’s dann mit Oasis, Blur, Black Grape, den Manic Street Preachers und Suede.

Da Lobpreisungen von Warren Ellis diesen Monat im Dutzend billiger waren (siehe auch Athena Voltaire und C’est Bon), auch zu Phonogram noch einen Ellis-O-Ton, so zum Abgewöhnen: „Read this or lose.“

Links:
Vorschau: 10 Seiten von Phonogram #1
Interview mit Kieron Gillen und Jamie McKelvie
Phonogram-Blog

PRIDE OF BAGHDAD (Hardcover)
DC Comics/Vertigo | 136 Seiten | farbig | $ 19.99 | JUN06 0255

Autor Brian K. Vaughan und Zeichner Niko Henrichon kredenzen eine Graphic Novel, die auf einer wahren Geschichte beruht: der Geschichte der Löwen des Zoos von Bagdad während der amerikanischen Invasion von 2003. Durch die Darstellung des Martyriums der Tiere, das in verschiedenen Presseberichten seinen Widerhall findet, will Pride of Baghdad sich mit der Bedeutung von Krieg und Befreiung auseinandersetzen. Wir haben es hier also mit einer Orwellschen Fabel mit konkretem Zeitbezug zu tun.

Den einzigen Vorwurf, den man Vaughans ansonsten schon kriminell unterhaltsamen Serien Y: The Last Man und Ex Machina machen kann, ist, dass der Autor sich zu oft zu viele Handlungsstränge zu lange vor sich hin köcheln lässt, ohne dass sich etwas tut, und sich immer wieder in formelhafte Standard-Krimi-Plots flüchtet. Bei einer in sich geschlossenen Arbeit wie einer Graphic Novel dürfte dieses Problem sich kaum stellen.

Fazit: Pride of Baghdad bietet einen sehr originellen und relevanten Ansatz und verspricht, äußerst lesenswert zu werden.

Links:
Interview mit Brian K. Vaughan (Publishers Weekly)
Interview mit Brian K. Vaughan (Wizard)

RUSH CITY #1-2 (von 6)
DC Comics | je 32 Seiten | farbig | $ 2.99 | JUN06 0255

“Schleichwerbung“ heißt auf Englisch „product placement“ und ist in den Vereinigten Staaten weder problematisch noch skandaltauglich. Nun gab’s bei Dark Horse zwar schon diverse von BMW gesponserte Veröffentlichungen rund ums Auto, die im Titel auch als solche gekennzeichnet waren, und bei Marvel hat man das eine oder andere Firmenlogo gegen Bares verbaut. Mit DCs Rush City wird aber erstmals eine Comicserie eigens zur Bewerbung eines Produkts geschaffen, ohne dass der Verlag es für notwendig hält, darauf hinzuweisen.

Tatsache ist: Die Reihe verfügt mit Autor Chuck Dixon und Zeichner Timothy Green II (mit Covern von Jock) über eine solide Mannschaft, existiert aber einzig und alleine deshalb, weil der Auto-Produzent Pontiac damit sein neuestes Modell bewerben will. Und damit nicht genug: Die Titelfigur „Rush“ – samt Karre natürlich – soll auch in diversen Batman-Serien auftauchen, während es in Rush City selbst Auftritte von Figuren aus dem DC-Universum geben wird.

Wer hier zahlt, der sollte sich also bewusst sein, dass er seine Kröten für eine überkandidelte, schön gestaltete Pontiac-Anzeige ausgibt. Darüber kann man sich sicher aufregen, insbesondere der dubiosen Informationspolitik des Verlags wegen, der man schon einen Schuss Böswilligkeit unterstellen kann. Andererseits bleibt aber natürlich erstmal abzuwarten, wie die geneigte Leserschaft auf derartige Tricksereien reagiert, die ja von den Werbestrategen selbst als besonders kritisch und intolerant gegenüber all zu plumper Reklame eingestuft wird.

Links:
Wall Street Journal: Artikel über Product Placement in Comics
Detroit Free Press: Artikel über Product Placement in Comics
Paul O’Briens „Article 10“: Kolumne über Product Placement in Comics

SAVAGE DRAGON #0
Image Comics | 32 Seiten | farbig | $ 1.95 | JUN06 1682

Eigentlich wollte Erik Larsen die Ursprungsgeschichte seiner Figur Dragon ja gar nicht veröffentlichen. Aber dann musste für den sagenumwobenen Image-Comics-10th-Anniversary-Luxus-Band was Besonderes her, und da passte sie halt so schön rein. Und eigentlich wollte Larsen die Geschichte dann nicht nochmal gesondert als Einzelheft veröffentlichen, denn das wäre ja unfair gegenüber denjenigen Fans, die sich extra deshalb den teuren Hardcover-Schinken gekauft hatten. Aber dann hatte das verflixte Ding fünf Jahre Verspätung… (Todd McFarlane war schuld.)

Und überhaupt, was juckt Erik Larsen sein Geschwätz von gestern. Jedenfalls können sich neugierige Gelegenheitsleser wie ich im August auf ein extra-günstiges Savage-Dragon-Heft freuen, das endlich Aufschluss über die Herkunft des „Hulks mit einer Finne auf dem Kopf“ (legendärer, bitterböser Kommentar von Peter David) gibt.

Versöhnlicher Hinweis an alle, die extra wegen dieser Story 50 Mäuse für den fetten, fett verspäteten Vierpfünder berappt haben: Heult doch!

SPIDER-MAN VISIONARIES: KURT BUSIEK, VOL. 1 (Paperback)
Marvel Comics | 176 Seiten | farbig | $ 19.99 | JUN06 2028

Die in diesem Band enthaltenen Hefte erschienen erstmals 1995 und 1996 als Untold Tales of Spider-Man #1-8. Damals wurde die Serie als willkommene Abwechslung gefeiert. Man erinnere sich: Es waren die dunklen Tage der berüchtigten, schier endlosen „Klon-Saga,“ mit der der Verlag seine Gallionsfigur im Namen der Profitmaximierung über Jahre hinweg bis zur Unkenntlichkeit demontierte.

Vor diesem Hintergrund traten Kurt Busiek und Pat Olliffe auf den Plan, sahen, dass es schlecht war, und verlegten ihre Geschichten kurzerhand ganz an den Anfang von Peter Parkers Wirken als Spider-Man, als das Fundament der Mythologie noch keine Risse aufwies. Und tatsächlich gingen die beiden Herrschaften dabei mit einer solchen Frische und Schaffensfreude zu Werke, dass man meinen mochte, Stan Lee und Steve Ditko seien zwischenzeitlich gestorben und angereichert um dreißig Jahre Comic-Evolution wiedergeboren worden.

Jedes der in dem Band enthaltenen acht Kapitel ist eine kleine, aber feine, rasant erzählte und in sich geschlossene Geschichte Lee-und-Ditko’scher Machart, in der sich Schurken (je einer pro Ausgabe, wie sich das gehört), Freundinnen und tyrannische Mitschüler die Klinke in die Hand geben – und zwar nicht nur altbekannte Figuren, sondern auch eigens für Untold Tales kreierte, die sich bemerkenswerterweise völlig nahtlos und organisch in das starke von Lee und Ditko geschaffene Ensemble einfügen. Was noch wichtiger ist: Busiek und Olliffe haben ein messerscharfes Verständnis davon, was den Reiz der Figur ausmacht und warum sie funktioniert, was sich auf jeder einzelnen Seite widerspiegelt.

Gute zehn Jahre nach der erstmaligen Veröffentlichung sticht das in Spider-Man Visionaries: Kurt Busiek, Vol. 1 enthaltene Material als eine Sternstunde für die Figur und für die Macher heraus und unterstreicht die Stärke des ursprünglichen Konzepts, ohne dabei altbacken zu wirken. Im direkten Vergleich mit diesem Material wird die Ideen- und Ratlosigkeit der aktuellen Autoren und Redakteure umso deutlicher.

WHISPER #0 (One-Shot)
Boom! Studios | 24 Seiten | farbig | $ 3.99 | JUN06 2973

Das bislang als Einzelheft gedachte Whisper, gezeichnet von dem Newcomer Joseph Cooper (Cover-Illustration: Kody Chamberlain), ist ein weiteres Werk von Autor Steven Grant (siehe Badlands und CSI: Dying in the Gutters), das im August auf die Menschheit losgelassen wird. Grant schrieb bereits in den Achtziger Jahren eine gleichnamige Serie, die es – erst bei Capital Comics, danach bei First Comics – auf insgesamt immerhin 40 Ausgaben brachte.

Anno 2006 will Grant den neuen Anlauf aber nicht als Nostalgieübung verstanden wissen. Ins neue Jahrtausend gerettet werden lediglich der Titel und die Ausrichtung der Serie, die Protagonistin ist eine brandneue Figur: eine Spionin mit Ninja-Schlagseite, die sich am Vorabend des Hurrikans Katrina in einen Waffen- und Drogendeal einmischt.

Wer Grants wöchentliche Kolumne verfolgt, in der der graumähnige US-Amerikaner immer wieder bissig und pointiert die Handlungen seiner Regierung analysiert und kommentiert, wird von dem aktuellen Bezug der Story nicht überrascht sein. Als Vergleich bietet sich im Comicbereich vielleicht am ehesten Queen & Country an.

Links:
Interview mit Steven Grant

Der Bücher-Wurm: Weitere US-Comics im August

+++KICKBACK von David Lloyd (Hardcover, Dark Horse Comics, $ 12.95)+++ROCKETO, VOL. 1: THE JOURNEY TO THE HIDDEN SEA von Frank Espinosa (Paperback, Image Comics, $ 19.99)+++THE LOSERS, VOL. 5: ENDGAME von Andy Diggle, Jock und Colin Wilson (Paperback, DC Comics/Vertigo, $ 14.99+++

Übrigens: die meisten der hier vorgestellten Comics können u.a. bei dem Berliner Händler Black Dog (vor-)bestellt werden.

Anregungen, Lob oder Kritik sind wie immer herzlich willkommen. Schaut einfach im Forum vorbei oder schickt eine E-Mail.

Bildquellen: Previews – Diamond Distributors; Agents of Atlas, Iron Man, Spider-Man Visionaries – Marvel Comics; Athena Voltaire – Ape Entertainment; Badlands – AiT/PlanetLar; The Boys, Pride of Baghdad, Rush City – DC Comics; Brownsville – Neil Kleid; C’est Bon Anthology – C’est Bon Kultur; CSI – IDW Publishing; The Life of Pope John Paul II in Comics – Papercutz; Lost Girls – Top Shelf Publishing; Phonogram – PhonogramComic.com; Savage Dragon – Newsarama.com; Whisper – Boom! Studios