Zwischen Rütli-Schule und Dreißigjährigem Krieg –
Vorstellung des Jubiläumscomics in Berlin
Der berüchtigte Berliner Stadtteil Neukölln feiert sein 650. Stadtjubiläum. Das Kulturamt Neukölln beauftragte zu diesem Anlass die Autorin und Filmemacherin Anna Faroqhi mit einem Comic über die Geschichte des Orts. Der im Dağyeli-Verlag erschienene Band trägt den Titel „Weltreiche erblühten und fielen – 650 Jahre Geschichte Rixdorfs und Neuköllns“ und hebt damit schon das Underdog-Image Neuköllns hervor.
Deren Bewohner mussten im Schatten der Großen dieser Welt leben: Seitdem Neukölln (damals noch unter dem Namen Richardsdorp) laut Urkunde am 26.Juni 1360 von Mönchen des Johanniterordens gegründet wurde, ist die Geschichte von Zuwanderung, Armut und Überleben geprägt. Aus Richardsdorp wurde schließlich Rixdorf, das sich 1912 in Neukölln umbenannte, weil sein schlechter Ruf als Vergnügungsviertel die Grundstückspreise drückte.
Die Idee zu diesem Projekt kam Dorothea Kolland, der Leiterin des Kulturamts Neukölln, bei einem Besuch in Toronto. Sie bemerkte dort, dass das Einwanderungsland Kanada seiner multikulturellen Bevölkerung in öffentlichen Bibliotheken mehrsprachige und leicht verständliche Literatur über ihre neue Heimat zugänglich machte. Darunter befanden sich auch Comics für Erwachsene, damit weniger Belesene nicht auf Kinderliteratur zurückgreifen müssen, wenn sie sich unterhalten oder bilden wollen. Dorothea Kolland beschloss also, das Neuköllner Jubiläum mit einem Comic zu würdigen, um der Mehrheit seiner Bewohner die Geschichte des Stadtteils vermitteln zu können.
Auch die gebürtige Berlinerin Anna Faroqhi lebt in Neukölln. Sie bezeichnet sich als „Nebenbei-Zeichnerin“, sah in dem Projekt aber eine Möglichkeit, über das Zeichnen ein Gespür für die Ortsgeschichte zu entwickeln. Empfohlen hatte sie sich in den Augen von Dorothea Kolland mit einem Film über Neuköllner Häuser, die Spuren von jüdischer Geschichte und Widerstand in der Nazizeit tragen.
Anna Faroqhi näherte sich der Vergangenheit ebenso über Originalzeichnungen und -fotos und verband die Geschichtsstunde mit Alltagserlebnissen ihrer eigenen Familie inmitten ihrer multikulturellen Umgebung. Deswegen sagt sie über ihre Arbeit: „Dieser Comic ist nicht von außen gemacht, sondern kommt von innen.“ Die Menschen auf den Bildern, die wir von Neukölln sehen, existieren wirklich. Um die Vielfalt Neuköllns zu zeigen, stellt Anna Faroqhi sie mit biografischen Notizen vor: den Falafelverkäufer, eine traumatisierte Besucherin auf dem türkischen Friedhof oder den Taxifahrer, der jeden Tag im Vorbeifahren seiner Familie winkt.
Bei solch einem pädagogischen Herzensprojekt wäre es ungerecht, sich an den etwas simplen Zeichnungen zu stoßen. Der den gesamten Band durchziehende Ton eines Kinderhörspiels wiegt da deutlich schwerer. Die subjektive Erzählweise stellt zudem gerade im Kontrast zur problematischen Vergangenheit und Gegenwart die Faroqhische Familienidylle recht penetrant heraus, so dass letztendlich doch dort eine Kluft besteht, wo eine Brücke geschlagen werden sollte.
Aber letztlich sind ästhetische Kriterien hier weniger relevant als die Wahl des Kulturamts Neukölln, gerade auf den Comic zu setzen, um möglichst viele Einwohner zu erreichen, was man als Zeichen dafür werten mag, dass das Medium einen weiteren Schritt hin zu einer arrivierten Kunstform getan hat.
(Website des Kulturamts Neukölln zum Programm des 650. Jubiläums)
Weltreiche erblühten und fielen – 650 Jahre Geschichte Rixdorfs und Neuköllns
Dağyeli-Verlag, Juni 2010
Text und Zeichnung: Anna Faroqhi
Paperback, 120 Seiten, schwarz-weiß; 9,50 Euro
ISBN: 978-3-935597-82-1