Am vergangenen Freitag hat in Luzern zum achtzehnten Mal das jährliche Comic-Festival Fumetto begonnen. Neben dem Stargast David Shrigley und dem „Artist in Residence“ Blutch sind dieses Jahr zum ersten Mal japanische Manga in der Schweiz zu sehen. Direktor Lynn Kost erwartet vom 27. März bis zum 5. April 670 Künstler zwischen 6 und 55 Jahren und natürlich viele Freunde der neunten Kunst.
Die Eröffnungsfeier wurde stilecht im Luzerner Hotel Schweizer Hof zelebriert; dort überreichte Stargast David Shrigley der diesjährigen Wettbewerbsgewinnerin zum Thema Virus, der 1979 geborenen Finnin Anna Sailamaa, ihre Auszeichnung. Lynn Kost teilte des Weiteren noch erfreut mit, dass man dieses Jahr zum ersten Mal in der Geschichte des Festivals Manga im Programm habe und eine Kooperation mit dem Filmfest Locarno vereinbart wurde. Während sich das Festival in diese Richtung öffnet, zeigt man sich jedoch gegenüber dem Mainstream immer noch verschlossen. Im Gegensatz zu anderen europäischen Festivals dieser Art, wie dem Comic-Salon in Erlangen oder dem festival international de la bande dessinée in Angoulême, wirken die Bewohner der idyllischen Stadt in der Schweiz sichtlich unbeeindruckt vom bunten Treiben. Dies hat nicht zuletzt zwei Gründe: Zum einen ist der Normalschweizer nicht gleich überwältigt, wenn er mit Kunst konfrontiert wird, und sei es mit der neunten; zum anderen befindet sich die Stadt nicht so fest im Griff der Comicenthusiasten, wie es bei anderen Festivals der Fall ist – obwohl oder gerade weil die Ausstellungsorte über die gesamte Stadt verteilt sind.
Nach einer nicht enden wollenden Parkplatzsuche beginnt für mich der Samstag, an dem die meisten Punkte auf dem Programm stehen, mit einem regelrechten Gewaltmarsch durch Luzern. Vorbei an der Künstlerin Kati Rickenbach, die, gefolgt von einer Horde Interessierter und Fans, durch ihren Studienort führt, bringt mich mein Weg zunächst zum Festivalzentrum Kornschütte, dem Rathaus der Stadt. Nach erfolgreicher Akkreditierung und kurzer Orientierungsphase bleibt leider keine Zeit, sich richtig umzuschauen. Fast wie blind hetzte ich Richtung Süden zum Café Parterre, der ersten Veranstaltung des Tages: Uli Oesterles Buchvernissage zur Gesamtausgabe von Hector Umbra.
Das kleine Café bietet genau den richtigen Hintergrund für den Comic. Während die Fensterfront mit frühen Originalen des ersten Bandes versehen ist, finden sich im hinteren, urigen Teil des Etablissements aktuellere, kleinformatige Originale und fünf einzelne Bilder der Protagonisten in Öl. Neben dem Direktor des Fumetto, der es sich nicht hat nehmen lassen, ein paar einleitende Worte zu sagen, sind auch der Künstler Uli Oesterle selbst und Michael Groenewald vom Carlsen Verlag zugegen. Während Kosts Worte eher als allgemeine Begrüßung zu verstehen sind, freuen sich Groenewald und Oesterle, auf dem Fumetto dabei zu sein, aber verschwenden keine Zeit, den Gästen von Hector Umbra zu erzählen. Nach einem kurzen Apéro (eine schweizerische Stehparty, hier mit belegten Broten und Sekt) beantwortet Oesterle beim Signieren ein paar Fragen. Nachdem wir Münchner extra zum Festival in die Schweiz gereist sind und beim Treffen in der Fremde eine gewisse Verbundenheit auftritt, vereinbaren wir, dass ein längeres Gespräch in einer Münchener Kneipe stattfinden muss. Man will ja schließlich auch so viel vom Festival mitnehmen wie möglich.
Nachdem der erste Programmpunkt in solch angenehmer Atmosphäre stattgefunden hat und belegte Schweizer Riesenbaguettes im Magen liegen, ist der Weg zurück ins Zentrum gar nicht mehr so weit und hektisch wie der Hinweg. Laut Festivalplan befindet sich in fast jeder Strasse eine kleine Ausstellung, doch die Suche nach Orten wie e4 oder d2 ähnelt eher Schiffeversenken. Was als Ausstellung von Exponaten angekündigt ist, stellt sich oftmals als nette Illustration in ordinären Geschäftsschaufenstern heraus. Andererseits auch verständlich, dass neben 18 Großausstellungen jeder noch so kleine Raum genutzt wird. Erst jetzt zeigen sich die durch Luzern fließende Reuss, ihre kleinen Brücken, über die man immer hin und zurück zu den unterschiedlichen Veranstaltungen laufen muss, und der Vierwaldstättersee in voller Pracht. Auch wenn das Wetter recht nass ist, bekommt man schnell einen positiven Eindruck vom Flair der alten Stadt am Wasser mit ihren vielen Türmen und Schlössern.
Im Verlauf des Nachmittags sammeln sich gleich eine ganze Reihe an besichtigten Ausstellungen auf meinem Block, die alle explizit auf den Unterschied hinweisen, den Comics in der Schweiz machen. So sind Luca Schenardis kunstvolle, nachcolorierte Collagen (Bild links) aus Popmotiven, Werbung und heimlich-unheimlichen Szenerien in Das ist ja das Schöne daran eine Augenweide, doch sehen wir uns da gerade einen Comic an? Mit der Vergabe der „Fumetto Schleuder“, die die Unterstützung eines Nachwuchskünstlers bei Publikation und Ausstellung darstellt, an Schenardi dürfte die Antwort der Festivalbetreiber auf diese Frage wohl klar sein. Auch Kost weist in schönstem Schweizerdeutsch noch einmal darauf hin, welche Kraft Schenardis Bilder haben. Diese ist unbestritten, aber von panels oder einer erzählenden Bildabfolge ist hier keine Spur mehr.
Immer weiter führen die Fumetto-Ausstellungen in Bilderwelten hinein, die ohne Frage in Kraft und Ausdruck den Bildern in einem Museum in nichts nachstehen: Daisuke Ichibas erotisch-groteske Darstellung von verstümmelten Frauen, Missgeburten und perversen Sexualpraktiken spiegelt sein Bild der japanischen Gesellschaft wider. Als Gegenstück dazu finden sich gleich einen Raum weiter die Bilder vom Genfer Künstler Alex Baladi, der mit seinen verträumten Bilderfetzen Bezüge zwischen Einzelbildern erzeugt.
Beim diesjährigen Fumetto ist man noch einen Schritt weiter gegangen und hat die Werke des Stargasts David Shrigley neben Bildern von Elvis Studio und Yuichi Yokoyama im pompösen, origami-artigen Kunstmuseum Luzern untergebracht. Noch bevor man das Gebäude betreten hat, dessen gigantisches Dach wie ein flaches schwarzes Raumschiff aussieht und von dem dicke Wassertropfen herabfallen, um in einem großen Wasserbecken eine Linie zu ziehen, ist man beschwingt durch das Gefühl, dass es Comics in den Olymp des Museums geschafft haben. Abgabe von Jacke und Kamera endlich machen den Eintritt in diese Sphäre offiziell, wo zur gleichen Zeit auf vier Ebenen auch noch die Luzerner Festspiele beherbergt werden. Leider finden sich die Comics erst in der hinterletzten Ecke des vierten Stocks auf drei mittelgroße Räume verteilt. Obwohl alle drei Künstler den Raum, der ihnen geboten ist, voll ausnutzen, bleibt ein fader Beigeschmack: Ging es wirklich nur darum, Comics ins Museum zu bringen? Erst die restlichen Ausstellungen in kleinen, malerischen Fachwerkhäusern oder Gebäuden aus der Gründerzeit führen wieder auf den subversiven Pfad der neunten Kunst zurück.
Die wohl interessanteste Figur des diesjährigen Festivals ist Blutch (Beispielbild links). Dieser Umstand ist nicht unbedingt der Tatsache geschuldet, dass er dieses Jahr in Angoulême mit dem Grand Prix de la Ville d'Angoulême ausgezeichnet wurde, sondern vielmehr, dass seine Comics ihm in Luzern den Statuts des „Artist in Residence“ beschert haben. Eine wirklich schöne Auszeichnung, die es dem Franzosen erlaubt, auf Kosten des Festivals im noblen Hotel Schweizer Hof direkt am See zu residieren und eben dort in der Empfangshalle täglich neben kaffeetrinkenden Damen und älteren Herren im Zweireiher neue Werke auszustellen. An diesem Samstag sind es Skizzen von Männern, die auf Pariser Balkons stehen und rauchen, oder auch Der kleine Christian, der sich nackte Frauen auf ein Blatt Papier fantasiert. So müssen sich Comics präsentieren – als Kunst des Zwischenraums, die immer ihren Platz findet. Und Blutchs Erfolg wird hier trotz der feudalen Atmosphäre sicher nicht enden.
Im Picasso-Museum, das in einem kleinen Stadthaus mit gewundener Treppe untergebracht ist, findet sich ein Destillat aus Kunst, Geschichte und Politik, dargestellt durch Comics. Auf drei Etagen gelingt es den Veranstaltern, Mark Newgardens komische Wiederholungsspiele (Little Nun), Rutu Modans politisch brisante Erzählung (Blutspuren), Ever Meulens Interpretation der ligne claire und eben Blutchs grafische Vielseitigkeit zu einem perfekten Paket zusammenzuschnüren. Die jeweiligen Originale werden durch Podcasts begleitet, die auch noch nachträglich auf der Homepage des Festivals runtergeladen werden können. Wenn ich auf diesem Festival nur eine Stunde Zeit gehabt hätte, hätte ich sie hier verbracht.
Auch der Kunsthochschule Luzern wurde ein Ausstellungsraum zur Verfügung gestellt, den die jungen Künstler voll ausgenutzt haben. Auf circa fünfzig Quadratmetern breiten sie ihre Superheldeninstallation Hey Hey Hero (Bild rechts) aus, die trotz interessanter Neoprenkostümierung der Studenten in ihrer Handarbeit-und-Werken-verwandten Papmachéartigkeit leider komplett ins Leere läuft. Da in Luzern nicht die üblichen Fans anzutreffen sind, die mit ihrer Begeisterung in der Welt der Comics viel bewegen, ist der Mainstream so gut wie nicht vertreten. Eine Superhelden-Persiflage wirkt aus diesem Grund nicht nur fehl am Platz, sondern auch etwas albern.
So scheint der utopische Traum von Comics als Kunst nicht mehr ganz so erstrebenswert nach einem Tag in Luzern. Doch gerade bevor ich wieder aufbrechen wollte, betrete ich ein zweites Mal das Festivalzentrum Kornschütte und finde dort neben dem reichhaltigen Sortiment des Zürcher Comicladens Analph auch die Wettbewerbsbeiträge zum Thema Virus. Ich wandere entlang der einzelnen Bilder von Kindern, die gerade mal acht Jahre alt sind, bis hin zu versierten Profis. Dann habe ich doch noch die Zeit, kurz mit Uli Oesterle über die Besonderheit multilingualer Comicläden in der Schweiz zu reden. Zum Schluss finden sich hier alle (auch David Shrigley) zum Zeichnerduell zwischen Minicomic-Künstler Frank Santoro und – wem sonst – Blutch ein.
Alles, was man über Comics weiß oder zu wissen glaubt, drängt sich mit Wein, Bier und Kaffee in diesen einen Raum und erfreut sich der Vorstellung der beiden Zeichner. Für eine halbe Stunde vergisst man alle Ausstellungen, alle Fragen über Comics und Kunst. Durch seine unnachahmliche Energie und Vielseitigkeit hat es Blutch geschafft, diese Positionen zu versöhnen. In nur fünfzehn Minuten füllt der Franzose zwei weitere Seiten mit seiner Feder, nachdem er bereits die Aufgabe des Zeichnerduells – das Thema war Adventure – absolvierte. Der arme Santoro schaffte es kaum, mit seinen Blau- und Rosastiften Schritt zu halten. Als ich nach einer köstlichen Vorstellung die Kornschütte verlasse und nach Hause aufbreche, kommen die Gedanken wieder: Das Spektrum der Comics ist nun mal so breit, dass neben Superhelden- und Underground-Comics auch die künstlerische Avantgarde ihren Platz findet. Falls jemand nur nach The Incredible Hulk # 368 für seine Sammlung sucht, dem sei vom Fumetto abzuraten, da man in der Schweiz Comics gerne aus einem anderen Blickwinkel betrachtet. Wenn man sich aber etwas Zeit nimmt, dann entdeckt man in einer freundlichen Stadt Comics, die man anderswo nur selten zu Gesicht bekommt.
Das Fumetto 2009 läuft noch bis zum 05.April 2009.
Fotos © Daniel Wüllner
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