Achtung:
Starke Spoiler für Grendel -Tod und Teufel, The Sandman #16, Hitman: 10,000 Bullets und League of Extraordinary Gentlemen.
Leichte Spoiler für The Walking Dead TPB #1, Preacher #7 (dt.), Promethea #15, Michel Vaillant – Der Fluch der Piste, Maus, Die Chronik der Unsterblichen – Am Abgrund, New Mutants #18 (US), Transmetropolitan – Another Cold Morning und Planetary #18
The Walking Dead #4
(US-Ausgabe; auch im ersten TPB enthalten)
S. 16-17
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Bei Robert Kirkmans Serie (erscheint bei Image) geht es um eine mit Zombies verseuchte Gesellschaft. Die wenigen noch normalen Menschen, allen voran der Provinzpolizist Rick, schließen sich zusammen und fahren auf der Suche nach Waffen, Lebensmittel und sichere Unterschlupfe quer durchs Land. Die besagte Szene zeigt den ersten risikoreichen Versuch von Rick und Glenn, sich direkt durch die extremst verseuchte Innenstadt zu schmuggeln und dann einen Waffenladen zu plündern. Zuerst gelingt es ihnen auch, unbemerkt zum Laden vorzudringen, da sie extra vorher den Gestank von Zombies annahmen (ihr wollt nicht wissen wie) und so die Untoten nicht zwischen Rick, Glenn und ihresgleichen unterscheiden konnten. Als dann aber der große Platzregen ausbricht, brach nicht nur bei den Comicfiguren die Panik aus, sondern auch bei mir. Der Regen spülte natürlich den Gestank sofort weg, und Rick und Glenn sind hoffnungslos von nun aufmerkenden Zombies umzingelt. Die anschließenden Panels, in denen die beiden sich hektisch mit einem Einkaufswagen voller Schusswaffen einen Weg bahnen zählen mit zu den lustigsten (der Wagen kippt auch noch um, heijeijei), aber auch angstschweißgebadeten, die ich in den letzten Jahren in einem Comic lesen durfte.
Und nicht zuletzt ist diese Episode im strömenden Regen, wie eigentlich die ganze Serie, wunderbar atmosphärisch in schwarz-weiß dargestellt. Alle, die die Serie kennen, wissen wovon ich rede, alle anderen müssen auch nicht mehr allzu lange warten, bis sie auch auf die deutsche Übersetzung bei Cross Cult zugreifen können, nein müssen (erscheint im Januar 2006).
Preacher
(US-Heft 13; dt. bei Speed in Heft 7 oder dem dritten Sammelband)
Beim wirklich sehr langen Vertigo-Epos von Garth Ennis und Steve Dillon könnte man im Grunde hunderte erinnerungswürdige Szenen herauspicken. Stellvertretend für alles, was diese Serie so stark macht, habe ich mich dann für Jesses finaler Abrechnung mit seiner abartigen Familie entschieden. Selten hat man in einem Comic durch Rückblenden soviel Mitgefühl und Wut zugleich wie durch die vorangegangenen Ausgaben von Preacher. In diesen bekam man alles, was dem Prediger Jesse Custer (die Hauptfigur des Comics) angetan wurde, in aller Grauenhaftigkeit geschildert. Der pure Hass Jesses entlädt sich dann schließlich in diesem Heft. Die Tyrannei der Großmutter und ihrer beiden grobschlächtigen Zöglinge T.C. und Jody soll im finalen Kampf beendet werden. Die beiden Bilder zeigen einen Ausschnitt der mehrseitigen Schlacht Jesse gegen Jody. Beispielhaft für die ganze Serie fällt auch die äußerst brutal aus. Die Spannung wird dadurch erzeugt, dass jede Gewalt-, Mord- und Folterszene durch die völlig zu verstehende Rachelust des Hauptcharakters mehr als gerechtfertigt erscheint.
Wie gesagt, die angesprochenen Sequenzen sind nur ein Beispiel, das man in Preacher zum Thema Gewalt und Rache findet. Aber vielleicht sind es diese Szenen, die mit am besten verdeutlichen, welch ungeheure Intensität Ennis und Dillon damit zu verbinden wissen, da Jesse darin mit seiner schlimmen Vergangenheit aufräumt.
PROMETHEA #15
Seiten 8/9
Autor: Alan Moore, Zeichner: J.H. Williams III
Sophie Bangs ist die neueste Inkarnation der mächtigen Sagengestalt Promethea, Barbara Shelley war ihre Vorgängerin in dieser Rolle. Zusammen unternehmen die beiden eine mystische Reise in verschiedene Sphären der Existenz und lernen dort eine Menge über die Welt (wie Alan Moore sie sieht).
In Heft #15 der Serie befinden sie sich in der Sphäre namens Hod, die der Sprache, der Magie und dem Intellekt gewidmet ist. Sie reden davon, dass Bilder die erste Form geschriebener Sprache waren und kommen kurz darauf auf einen Pfad, der wie eine liegende Acht in sich geschwungen ist. Während sie dort entlangwandern, merken sie, dass sie sich sowohl räumlich als auch zeitlich immer wieder vor und zurück bewegen.
Diese Szene ist, wie ein Großteil der „Promethea“-Serie, sehr metaphysisch und inhaltlich sicher nicht jedermanns Sache. Auf der grafischen Ebene kann man aber nur bewundern, was Alan Moore und sein Zeichner J.H. Williams III hier geschaffen haben. Um den Weg und das Gespräch der beiden Frauen zu verfolgen, muss der Leser das Heft in alle Richtungen drehen. Ebenso wie sie, bewegt er sich dabei vor und zurück und landet am Ende wieder am Ausgangspunkt, wo Barbara sagt: „Ich weiß nicht, aber ich glaube, ich habe grade ein heftiges Dejà Vu. Waren wir hier nicht schonmal?“ Mit dem Spaziergang auf dem
Möbiusband zeigen Moore und Williams die Möglichkeiten und die Faszination des Mediums Comic, seine Verschränkung von Text und Bild, die Bedeutung von Panelaufteilung und Seitenlayout. Die Szene funktioniert so wirklich nur als Comic und könnte weder in einen Film noch in einen Roman oder ein Hörspiel adäquat übertragen werden.
Die Doppelseite steht damit exemplarisch für die ganze Serie. Immer wieder wechselt Williams seinen Zeichenstil, präsentiert ungewöhnliche Seitenlayouts und spielt mit Farben und Formen. Ein ungewöhnliches Comicerlebnis, das auch beim wiederholten Lesen immer wieder neue Entdeckungen möglich macht.
(Die erwähnte Szene ist enthalten im Sammelband Promethea Book Three, America’s Best Comics/WildStorm. Auf deutsch bisher nicht erschienen.)
Michel Vaillant – Der Fluch der Piste
Eine Szene daraus ist mir nach dem ersten Lesen vor 32 Jahren (damals im Zack-Heft) immer noch in Erinnerung.
Michel Vaillant verunglückt, und sein Wagen fängt Feuer. Er kann sich gerade noch aus dem brennenden Inferno retten. Diese Szene hat mich als Kind/Jugendlicher schwer beeindruckt. Bereits damals war ich Formel 1-Fan. Früher ging es im Rennsport noch öfters um Leben oder Tod, und ich finde, dies ist hier gut eingefangen worden (auch wenn Graton ansonsten nicht der große Zeichen-Künstler ist).
Eine Rolle spielt auch, dass ich das ganze Album deswegen gut finde, weil Michel Vaillant hier nicht wie gewohnt den strahlenden Gewinner, sondern einen Verlierer mimen muss.
Grendel -Tod und Teufel
Einen „bewegenden Moment“ im Comic auszusuchen ist eine kniffelige Sache.
Sind die „Magic Moments“ beim Film oftmals prägnant und unmittelbarer, weil diese durch Schnitt, Musik, Schauspiel und Timing eine wesentlich didaktischere Wirkung haben, wird ein großer Moment beim Comic doch eher subjektiver empfunden.
Entsprechend schwer fiel mir die Auswahl aus den nicht wenigen potentiellen Kandidaten. Manchmal reicht ein Panel für eine Gänsehaut, und trotzdem braucht es oftmals einen ganzen Comic als Vorgeschichte, der diesen Augenblick sorgsam aufbaut. „Maus“ stand natürlich ebenso in der engeren Auswahl wie das Crossover zwischen „Lobo“ und „Hitman“, „Das blaue Tagebuch“ oder einem „Yps“-Heft aus nostalgieverklärten Zeiten – schlussendlich fiel‘ die Wahl auf „Grendel – Tod und Teufel“.
Die Grendel – erfunden von Matt Wagner – sind ähnlich den Ronins Abtrünnige einer zerfallenden endzeitlichen Militär-Elite, die sich in Clans durch eine desolate und radioaktiv verseuchte Welt schlagen – mit mehr oder weniger strikten Einhaltungen ihres einstigen Ehrenkodex.
Die „Tod und Teufel“-Mini-Reihe wurde von Darko Macan geschrieben und Edvin Biukovic gezeichnet – beide aus aus dem ehemaligen Jugoslawien stammend, was der Geschichte eine zusätzliche Brisanz sowie Intimität verleiht.
Drago erkrankt durch eine hinterhältige Falle tödlich. Von seinem „Agram“-Clan wird er über eine „Bestie“ unterrichtet, die sich seit geraumer Zeit über Vieh und ihre Jäger hermacht. Drago nimmt seine Chance für ein würdiges Ende wahr und begibt sich auf die Suche nach dem mysteriösen Monster, behelligt duch seine Konkurrentin Zora, die seine Erbfolge um jeden Preis antreten will. Drago findet schließlich das „Monster“ und gleichzeitig einen Seelenverwandten, ist doch auch Drago durch seine hochansteckende Erkrankung zum Aussätzigen geworden. Sich seiner Stunde des Todes bewusst, verbringt er mit seinem neuen Freund die letzten glücklichen Momente – doch auch diese sind ihm nur vergönnt, bis ihn der allgegenwärtige Krieg wieder einholt…
The Sandman #16
Irgendwo in Amerika, in einem Hotel fernab der vielbefahrenen Highways und großen Städte, ereignet sich eine merkwürdige Zusammenkunft. Oberflächlich betrachtet handelt es sich um ein Treffen von Cornflakes-Fabrikanten. Die Ankommenden begrüßen sich, beziehen ihre Zimmer, lernen einander in der Lobby kennen und tauschen sich am Buffet über ihre Profession aus. Bald wird jedoch klar, dass die Teilnehmer der Convention nichts mit Cornflakes am Hut haben. Sie sind Serienkiller, Mörder und Totschläger. Die Zeitungen gaben ihnen Namen wie Dog Soup, Lip Collector und Family Man.
Meine erinnerungswürdigste Comicszene jagt mir noch immer Schauer über den Rücken. Sie wurde für mich zu einem Inbegriff guten Horrors und ereignet sich am Rande der oben beschriebenen Convention. Die Szene findet sich in Heft 16 der Reihe The Sandman und ist Teil von The Sandman Book II: A Doll’s House. In Deutschland erschien diese Episode 1995 in dem Band Verlorene Herzen unter dem Titel Sammler. Der Autor ist Neil Gaiman, gezeichnet wurde sie von Mike Dringenberg.
In der Szene, die ich vorstellen möchte, spielen drei grauenhafte Gestalten mit. Zunächst ist da Nimrod, ein Brillenträger mit Oberlippenbart und weißem Hemd. Er ist im richtigen Leben Kieferorthopäde. In den einsamen Bergen von Vermont hat er eine Hütte, von der niemand etwas weiß. Dort stehen vier gefüllte Gefriertruhen, und er überlegt, ob er nicht noch eine fünfte kaufen soll. Dann ist da der Doktor, bullig, in einem blauen Anzug. Er ist eine anerkannte Autorität auf dem Gebiet der Medizin. Sogar Präsidenten hat er schon behandelt. Er sammelt Lederkrawatten, jede einzelne hat er selber gemacht. Zu guter Letzt ist da der Korinther. Er ist ein fleischgewordener Alptraum, geschaffen, um im Herzen jedes Menschen die Finsternis zu sein. Hinter den Gläsern seiner Sonnenbrille lauern statt Augen zwei Höhlen voller scharfer Zähne.
Ihr Opfer ist der Journalist Philip Sitz. Er hat sich neugierig unter die Serienkiller geschlichen und als der Bogeyman ausgegeben. Obwohl er selber kein Mörder ist, identifiziert er sich mit ihnen und ihren Taten. Er verachtet Frauen und schwelgt in Gewaltphantasien. Und er möchte lernen. Unglücklicherweise haben ihn Nimrod, der Doktor und der Korinther entlarvt. Sie fesseln Philip, fahren mit ihm in einen Wald und hängen ihn an einem Baum auf.
Obwohl Philip alles andere als eine liebenswerte Person ist, bekommt man ein wenig Mitleid mit ihm. Er ist ohne Frage ein Scheusal, das kurz davor steht, durchzudrehen und selber zum Mörder zu werden. Doch auf der Convention ist er ein Außenseiter. In der Stunde seines Todes muss er erkennen, dass er nichts mit den Anwesenden gemeinsam hat.
Bevor es zur Sache geht, gibt ihm der Korinther eine letzte Weisheit mit auf den Weg. „Es geht nicht um Sex, nicht um Macht oder Grausamkeit. Wir sind Soldaten der Finsternis, Philip. Gladiatoren, Krieger und Götter, und wir werden es Dir beibringen. Der gute Doktor häutet Menschen gerne bei lebendigem Leib. Nimrod ist ein Jäger. Er kann jedes Tier in Minuten schlachten und ausweiden. Was mich angeht, ich habe eine Vorliebe für Augen. Und weißt Du, was wir jetzt machen werden, Philip? Wir werden uns abwechseln.“
Die Steigerung des Grauens ist in dieser Sandman-Episode von Seite zu Seite spürbar. Hat der Leser zunächst noch Distanz zu den Mördern und ihren Taten, so nähert er sich Stück für Stück den Verbrechern. So nahe wie in dieser Szene ist er dem tatsächlichen Treiben nirgends. Genial, wie der Autor mit der Fantasie des Lesers spielt. Es wird nichts gezeigt, nur angedeutet. Darin verbirgt sich für mich der Inbegriff guten Horrors. Nachdem das Grauen beständig gesteigert wurde und der Korinther die Hinrichtung von Philip Sitz ausmalt, bricht die Szene nämlich ab. Der Mord an Philip wird nicht gezeigt. Wahrer Horror ist eben das, was wir nicht sehen.
Maus
Art Spiegelmans „Maus“ dürfte den meisten ein Begriff sein. Jeder, der es gelesen hat, weiß, dass die comichafte Schilderung der damaligen Ereignisse betroffen macht, wie es sonst vielleicht „Schindlers Liste“ vermag.
Der bewegenste Moment der zwei „Maus“-Bände findet sich trotz aller gezeichneten Horrorszenarien erst zum Schluss der Geschichte und hatte eine Wirkung auf mich wie kein anderer in der Comicgeschichte.
Zwar haben mich die bedrückenden Schilderungen berührt, durch die metaphorische Darstellung der Menschen als Mäuse, Katzen, Schweine usw. blieb jedoch stets ein kleiner Abstand erhalten.
Auf Seite 134 des zweiten Bandes ist dann jedoch ein Foto des realen Wladek zu sehen und plötzlich ist dieser „Sicherheitsabstand“ nicht mehr da. Die ganze eben gelesene Geschichte erwacht zum Leben, wird zur harten Realität. Man malt sich unwillkürlich aus, wie die ganze Geschichte wirklich ausgesehen haben mag.
Eine ohnehin schon kaum fassbare Fabel zeigt ihr wahres Gesicht und wird im Kopf des Lesers mit einem Paukenschlag zur echten Biographie. Das wäre in keinem anderen Medium möglich gewesen.
Die Chronik der Unsterblichen – Am Abgrund
Eine der Szenen, die mich am meisten berührt haben in einem Comic, stammt aus dem ersten Band von Die Chronik der Unsterblichen. Gezeichnet von Thomas von Kummant und, nach einem Wolfgang-Hohlbein-Roman, adaptiert von Benjamin von Eckartsberg geht es um einen Mann, Andrej, der im 15. Jahrhundert aus Not sein Heimatdorf verlassen musste. Seinen Sohn Marius will er den Gefahren nicht aussetzen, die ihm unterwegs begegnen könnten, und so lässt er ihn schweren Herzens zurück.
Nach einigen Jahren kehrt er erwartungsvoll ins Dorf zurück, um Marius wiederzusehen. Aber der Ort, an dem er seinen Sohn sicher wähnte, ist komplett zerstört – die Inquisition nahm sich des Teufelsplatzes an und massakrierte und tötete sämtliche Bewohner, selbst die alten Leute und die Kinder. Verzweifelt und voller Panik sucht Andreij nach Marius‘ Körper – bis er ihn in einem Turm findet. Gefoltert wie alle anderen, aber im Gegensatz zu ihnen noch am Leben. Der Junge, gefesselt, blutend, mit einem Pflock im Leib und am Ende seiner Kräfte, erkennt seinen eigenen Vater nicht und wähnt in ihm den Tod, den er so herbeisehnt. Andreij realisiert, dass er seinen Sohn nicht mehr retten kann und erlöst ihn von seinen Schmerzen.
Selten habe ich so intensiv mit einer fiktiven Comicfigur mitgelitten wie bei dieser Szene. Auch jetzt noch, beim Raussuchen der Bilder, berührt sie mich zutiefst. Die ruhigen Bilder und die dunklen Farben ergänzen das Ganze und lassen alles noch sinnloser und endgültiger erscheinen.
In der Romanvorlage findet dies übrigens nicht so statt – dort trifft Andrej auf einen anderen noch lebenden Verwandten, den er von seinem Leid erlöst, sein Sohn liegt bereits tot in einem Leichenhaufen. Aus „Platzgründen“ wurden diese zwei Aspekte zusammengefasst, wobei ich die Comicvariante noch atmospärischer finde.
New Mutants #18
(The Demon Bear Saga)
Das Thema „Große Momente der Comicgeschichte“ bedeutet entweder selbige nach mehr oder weniger adäquaten Prinzipien zu durchforsten, auf der Suche nach dem herausragenden, mediumsprengenden Moment. Oder es ist die Aufforderung, das erste Panel zu beschreiben, das einem bei dieser Aufgabenstellung in den Sinn kommt. Ich habe mich für die zweite Möglichkeit entschieden.
Mir ist also durchaus bewusst, dass es dieses Superheldenheft der Endachtziger nicht in die 3012 stattfindende Archäologieausstellung „Der Menschheit 9. Kunst und was davon übrig blieb“ schaffen würde. Wenn, dann würde es sich über die Play-Offs gegen die Millionenauflagen der Neunziger qualifizieren – und das, ganz nebenbei, locker aufspielend. Ich gebe zu, diese Vorstellung macht ANGST, aber man sollte lieber damit rechnen, dass die in tausend Jahren als eigene Sedimentschicht (Farlaneliefledium) sich über Nordamerikas Täler, Wälder und Meere ausbreitende Auflagenhydra der Neunziger der Nachwelt ein schrägschreckliches Bild von der guten, alten und gewiss ausgestorbenen neunten Kunst vermitteln könnte.
Entschuldigung für diesen Satz und jetzt auf zum eigentlichen Thema. Juvenile, claremonterschaffene Mutanten und der Bruch in den Spätachtzigern.
Der Inhalt lässt sich knapp zusammenfassen. Die neuen Mutanten waren in den Achtzigern das erste Kind der erfolgreichen und stets unheimlichen Mutter, Uncanny (heißt also „unheimlich“… dass ich das erst jetzt nachgeschlagen habe) X-Men. Nach bewährtem Rezept lässt Professor X per Cerebro junge Mutanten zusammenkommen, auf dass sie in seiner Schule lernen, mit ihrer Pubertät und ihren neu auftretenden, unheimlichen Superkräften zurechtzukommen. Und das in dieser Reihenfolge. Interessante Anekdote am Rande: Während in der All-New, All-Different-Rekrutierung eher die G7 dominierte (Japan, Deutschland, Kanada, UDSSR…), kamen bei den Neuen Mutanten sympathische Loserländer wie Korea, Irland (damals beide noch im Prä-Tigerstaat-Status) oder Brasilien zum Zuge. Tja, in Giant-Size 1 gings auch um was, da mussten die Eisen aus dem Feuer geholt werden. Die Kids dagegen sollten eigentlich nur nett sie selbst sein, nett lernen, nett zusammen, nettnett. Ja, eigentlich… Denn es kommt, wie es kommen muss. Aus den Schülern wird trotz der Unterschiede, Minderwertigkeitskomplexe und aller Unerfahrenheit eine eingeschworene Truppe und ferner (die Gefahr von außen lässt ihnen selbstverständlich keine andere Wahl) eine Superheldengruppe. New Mutants.
Dieses Vorwissen ist wichtig, um die Naivität und Konventionalität der Serie und demnach den Bruch, der mit Heft Nummer 18 kam, nachvollziehen zu können. Also, Heft Nummer 18.
Bill Sienkiewicz.
Zisch, Rausch, Flirr.
Wie wenn David Lynch auf OC California losgelassen wird.
Bibber, Zitter, Schrei.
Sein in der, inhaltlich als auch markttechnisch gesehen, eher abseitigen Marvel-Serie Moon Knight gereifter, abstrakt-expressiver und für damalige Verhältnisse sehr experimenteller Zeichenstil sorgt mit der ersten Seite von New Mutants 18 für eine kleine Revolution im Mainstream. Und für gehörige Verwirrung beim damals noch sehr jungen Schreiber (aka ich, früher).
Dani Moonstar, aka (erraten) Moonstar, eine Native American Cheyenne mit übersinnlichen, schamanistischen Superkräften, wird von Horrorvisionen geplagt. So eröffnet dieser Comic – mit einer ganzen Seite Angstattacke.
„He’s out there, the Demon Bear that murdered my parents. Watching. Waiting.
For me.”
Besonders geschickt auf die jungen Leser gerade ein Bild loszulassen, das ihnen aus ihrer Kindheit noch durchaus vertraut vorkommen muss. Nachts, im Bett zusammengekauert, die Decke über den Kopf gestülpt. Nur die in Panik wandernden Augen halten Kontakt mit dem Außen. Und das Außen ist in diesen Momenten ALLES, ausgenommen des beschützenden Bett-Decke-Cocoons, dieses unermessliche ALLES, welches außerhalb der eigenen visuellen Reichweite ist. Das Monster ist immer dort, wo man es nicht sehen kann.
Sienciewicz fängt diesen Angsttrip mit seinem in diesem Fall kongenial minimalistisch agierenden Partner Claremont perfekt ein. Der unvertraute Strich, der damals noch ungewöhnliche Splashpage-Effekt, der den oben erläuterten unterbewusst ablaufenden Angstprozess unterstützende Bildaufbau und diese wenigen, prägnanten Worte …. BOOM.
Das Bild, das mit haften blieb, ist auf Seite 17 zu finden. Der Demon Bear in voller Pracht. Erneut eine full page illustration. Die Unermesslichkeit in Danis Angst.
Ein psychotisch dreinblickender, absurd überproportionierter Gorilla-Grizzly mit Riesenkrallen saugt unsere junge Mutantin förmlich auf mit seiner schwarzen Körpermasse. Drumherum unschuldiger, weißer Schnee.
Sprachlos.
Danach waren Comics anders.
Vielschichtiger, gefährlicher, abgründiger… psychologischer. Hier ging es los, schätze ich. Meine Comic-Pubertät nahm ihren Lauf.
Garth Ennis ist ein Autor, mit dem ich oft härter ins Gericht gehe als mit anderen Autoren. Ich weiß, es ist unfair, jemandem zu sagen: „Bei anderen hätte ich das gut gefunden, aber ich weiß, dass du es besser kannst.“ Nur bei Garth Ennis ist das exakt der Fall. (Bloß dass ich ihm das offensichtlich nicht persönlich sage… wobei es natürlich toll wäre wenn, aber egal.)
Hitman: 10,000 Bullets
ist so ein Fall, der zeigt, was Ennis rausholen kann, wenn er nur will. Denn hier mixt Ennis die beiden Elemente, die er perfekt beherrscht: Abgedrehte, geschmacklose Gewalt und ruhige Charaktermomente. Nur leider verlässt er sich zu oft einfach nur auf die geschmacklose Gewalt. Der letzte Teil von 10,000 Bullets startet damit. Tommy Monaghan, der Hitman, kracht seine alte Rostmühle durch eine Wand, zerschmettert einen korrupten Bullen, und dann beginnen Tommy und sein Kumpel Natt the Hat einen Amoklauf durch das Anwesen eines Gangsterbosses (siamesischer Zwilling, wobei Tommy bereits einen der beiden Zwillinge getötet hat und dieser nun fröhlich vor sich hin verrottet… ein typischer Garth Ennis halt), der knapp zwei Drittel des Hefts andauert. Und dann, ohne Vorwarnung, ändert Ennis Tempo und Stil. Und das macht ihn, in seinen guten Momenten, zu einem der besten Autoren im Comicbereich.
Der Bruch kommt abrupt, aber er wirkt nicht störend. Er verhindert, dass das Heft eine reine Gemetzelsequenz ist und gibt damit dem Abgeschlachte retroaktiv mehr Gewicht. Tommy findet sich nun auf dem Dach des Anwesens wieder, wo er im Regen stehend gegen Johnny Navarone, den besten Profikiller der Welt, antreten muss. Tommy weiß, dass er keine Chance hat. Er feuert einen Zufallsschuß ab und hat das Glück, damit Navarones Schußhand zu zerfetzen. Johnny bietet Tommy nun an, ein Team-Up zu schließen. Zusammen können wir das Universum regieren, Luke… also, quasi. Immerhin: „We’re better than this scum.“ Woraufhin ihm Tommy die Pistole an die Stirn presst, murmelt „We are all scum, Johnny. We are all scum“, und dann den Abzug durchdrückt.
Das Schöne an dieser Szene ist, dass sie ungemein cinematisch wirkt. Nach dem konstanten Adrenalingepumpe der bisherigen Seiten wirkt der Shoot-Out ruhig und zurückhaltend, was seine Bedeutung noch unterstreicht. Es ist vor allem das „We’re all scum“-Panel, bei dem ich an einen wirklich guten Film denken muss. Die filmreife Atmosphäre wird von dem Regen noch weiter unterstrichen. Wenn ich diese Szene lese, dann habe ich in meinem Kopf immer die Stimme von Bruce Willis, der die Rolle von Tommy spricht. Dabei ist auch zu beachten, dass die Exekution Navarones nicht on panel stattfindet, sondern außerhalb des übergroßen Bildes. Nachdem die ganze Ausgabe das explizite Gemetzel zelebrierte, wird das kaum Zensurgründe haben. Ennis schafft den Schwung von actionreichem Massaker zu ruhiger Charakterszene mit Bravour.
Dieses Finale auf dem Dach ist eine der Szenen, die ich immer mal wieder lese. Nur diese eine Szene, weil sie einfach hervorragend geschrieben ist. Das Äquivalent einer großen Kinoszene in Comicform.
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Warren Ellis ist in gewisser Hinsicht wie Garth Ennis… er kann mehr, als er oft zeigt. Zu oft kommt ihm die Lust an der Provokation und der gezielten Geschmacklosigkeit in die Quere. Der Wunsch, kontrovers zu sein, überlagert dann manchmal die Qualität seiner Arbeit. Dabei sind, zumindest für mich, die besten Beispiele für Ellis‘ Fähigkeiten diejenigen, in denen er sich bewusst zurückhält. Das von mir schon öfter erwähnte
Transmetropolitan – Another Cold Morning
ist ein Musterexemplar dafür. Hier erzählt Ellis eine Geschichte, die wunderschönen Zeichnungen von Darick Robertson unterstreichen Ellis Qualität als Erzähler nur. Dies ist die einzige Ausgabe von Transmetropolitan, in der wir eine von Spider Jerusalems „I Hate It Here“-Kolumnen in ihrer Gänze erleben und nicht nur Auszüge. Keine wirkliche Storyline, keine Sprechblasen, keine Soundwords, nur die Captions, die die Kolumne wiedergeben und die dazugehörigen Bilder.
Wenn Ellis dann zu dem Teil kommt, in dem wir Details aus dem Leben von Mary, einer seit dem 20. Jahrhundert in Cryostase gefrorenen und erst kürzlich in Spider Jerusalems Zeit aufgetauten Frau, erfahren, dann schwingt da mehr als ein Hauch von Blade Runner mit. Präziser, ein Hauch der umwerfenden „Tears in Rain“-Szene, in der Rutger Hauer sterbend auf dem Dach sitzt und besondere Erinnerungen aus seinem Leben wiedergibt, die der Zuschauer nicht auf dem Bildschirm sieht. Da ist nur Rutger Hauer und der Regen, und trotzdem entstehen – dank dem guten Script und dem großartigen Monolog Hauers – automatisch Bilder im Kopf, die diese Szene erinnerungswürdiger machen, als es jeder Computereffekt je könnte. So funktioniert auch diese Szene in Another Cold Morning. Spider Jerusalem erzählt, wie Mary mit Gorbatschow durch Moskau ging, von dem Mann, der die chinesische Panzerkolonne gestoppt hat, von Nelson Mandela in Johannesburg, und es entstehen Bilder im Kopf. Warren Ellis hat mir mit dieser Szene eine wirkliche Gänsehaut verpasst. Sehr gelungen auch der Gegensatz zwischen diesen bewegenden Captions über die Vergangenheit und Robertsons Zeichnungen, in denen Mary einsam und verlassen in einer dreckigen Gasse sitzt und mit der Gegenwart, ihrer Zukunft, nicht zurecht kommt. Von dem, was uns Spider Jerusalem da erzählt, sehen wir auf der Seite nichts. Und trotzdem hatte ich sofort passende Bilder vor Augen. Kopfkino.
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Einen ähnlich starken Effekt hatten die letzten Seiten von
Planetary #18
auf mich.
Hier haben wir zuvor erfahren, was es mit dem „Gun Club“ auf sich hat, einer Organisation, die im 19. Jahrhundert versuchte, eine bemannte Raumkapsel auf den Mond zu schießen. Die Flugbahn war falsch kalkuliert, und die Astronauten trieben über 100 Jahre im All, ehe die Kugel mit den Überresten der Astronauten vor kurzem wieder in die Erdatmosphäre eintrat. Auf den letzten Seiten beginnt Elijah Snow nun darüber zu philosophieren, wie sich die Männer auf der Erde gefühlt haben müssen, die jeden Abend zum Mond schauten und sich wunderten, was aus ihren Weggefährten geworden ist. Selbst während ich das hier schreibe kann ich dieses leichte Prickeln im Hinterkopf spüren, das ich beim ersten Lesen von Snows Worten hatte. Ellis setzt da, mit dem Verzicht auf Flüche und Albernheiten, eine wirklich starke Prosa ein, die mich sofort in ihren Bann zieht und die in der Lage ist die Magie zu transportieren, von der Snow redet. Wenn er dann mit einem „Strange world. And it’s always going to be that way,“ schließt, dann weiß ich als Leser ganz genau, was er meint.
Wenn Ellis nur öfter diese ruhigen Töne anschlagen würde, die er doch eigentlich so gut beherrscht.
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Die größte Stärke von Alan Moores
League of Extraordinary Gentlemen
ist, dass er seinen Charakteren Tiefe gibt. Selbst, oder gerade, Mr. Hyde profitiert davon. Es wäre leicht, Hyde als die böse, unkontrollierte Seite des harmlosen, verklemmten Viktorianers Dr. Jekyll anzusehen, aber Moore geht einen Schritt weiter. Hyde ist nicht einfach böse, und Hyde ist auch mehr als die ausgelebten Triebe des Dr. Jekyll. Hyde ist ein eigenständiges Wesen, ein ganz eigener Charakter, mehr als nur das Gegenteil von Jekyll. In LoEG scheint es eher so, als wäre er das Original und Dr. Jekyll die Seite, die nur gelegentlich hervorbricht. Hyde hat Gefühle, Ziele und eine – wenn auch sehr verquere – Vorstellung von Moral. Etwas, das der Unsichtbare Mann nur wenige Szenen vor der Polka-Szene auf höchst unschöne Art und Weise erleben musste.
Wenn Hyde nun seinem Tod entgegen geht, dann ist das eine der besten Todesszenen, die ich in der Comicwelt kenne. Auch weil sie – zumindest wahrscheinlich – eine gewisse Permanenz haben wird, die normalen Superheldentoden fehlt. Da ist etwas sehr Verstörendes in der Art, wie der wilde Mr. Hyde, den wir Leute mittig durchreißen sahen, sich zurückhaltend und fast schüchtern von Mina Harker verabschiedet, seine Frack über den Arm legt und mit einem Spazierstock und einem fröhlichen Lied auf den Lippen auf die Tripods der Marsmenschen zutanzt, die ganz England in Schutt und Asche gelegt haben. Und die danach scheinbar auch Hyde einäschern.
Und dann kommt Hyde noch einmal zurück. Der andere Hyde, der wilde Hyde, der ganz alleine einen Tripod zum Sturz bringt (hier kann sich Moore den Schwinger gegen H.G. Wells nicht verkneifen, dass ein Dreibeindesign taktisch mehr als unklug ist), die Pilotenkapsel aufreißt (in einer Szene, die stark an Independence Day erinnert) und dann einen der Marsianer bei lebendigem Leibe verschlingt. Erst dann machen ihm drei weitere Tripods endgültig den Gar aus.
Moore setzt hier einen fulminanten Schlusspunkt für einen der besten Charaktere, die er je „geschaffen“ hat. Natürlich, Hyde ist nicht seine Erfindung, aber das, was Moore mit Hyde gemacht hat, war wahrscheinlich besser als jede andere Hyde-Interpretation in den letzten 100 Jahren. Moore hat sich den Charakter zu eigen und ihn mehr als interessant gemacht. Er hätte hier auch die einfache Route wählen und Hyde als Hulk-Ersatz verwenden können. Stattdessen ist Hyde eine vielschichtige Persönlichkeit, undurchschaubar und bis zum Ende nicht in klare Kategorien einzuordnen.
Die Art, wie Hyde ins Jenseits geht, betont das. Der freundliche Hyde, der Gefühle für Mina Harker hat. Der Hyde, der immer noch eher der verweichlichten Menschheit als den marsianischen Invasoren beisteht. Und der wilde, brutale Hyde, der Dinge tut, die nicht nur seine Teamkameraden das Fürchten lehren, sondern auch Wesen mit einer ganz anderen Philosophie, Psyche und Herkunft. Sein Ende ist beeindruckend und effektiv. Wie er es verdient hat, geht er mit einem großen Knall, nicht mit einem Flüstern. Die „You Should See Me Dance The Polka“-Szene ist eine Szene, die der Leser einfach nicht mehr vergessen kann. Ein einzigartiger Tod, der einem einzigartigen Charakter mehr als gerecht wird. Man wünscht sich nur, dass die Filmmacher zumindest einen Bruchteil der Comics verstanden hätten.