Der britische Comiczeichner und Illustrator Luke Pearson traf im Jahr 2010 einen Nerv, als er beim kleinen Londoner Indie-Verlag Nobrow Press den märchenhaften Comic Hildafolk veröffentlichte, dessen Hauptfigur ein kleines Mädchen ist, das ganz selbstverständlich in einer fantastischen Welt voller Trolle, Riesen und anderer Fabelwesen lebt, dabei aber keine groß angelegte Heldenreise zu bewältigen hat, sondern eher kleine und zufällige, dafür umso charmantere Abenteuer erlebt, die Leser allen Altersstufen berühren und begeistern können. Aus diesem Debütband wurde später eine Serie im Albenformat, von der bisher zwei Ausgaben vorliegen. Daneben zeichnet Pearson Illustrationen für Magazine und Kurzcomics für verschiedenste Anthologien, außerdem liegt bei Nobrow Everything We Miss vor, eine düstere Geschichte über Beziehungskrisen, Einsamkeit und Verlust.
Bei Reprodukt erschien im Frühjahr das erste Album der Hilda-Reihe (Hilda und der Mitternachtsriese) und erntete zahlreiche euphorische Kritiken. Im Oktober folgt die deutsche Ausgabe des Debütcomics Hildafolk (Hilda und der Troll). Im Sommer war Luke Pearson auf einigen Veranstaltungen in Deutschland zu Gast, unter anderem beim Comicfestival München, wo wir ihn zu einem ausführlichen Interview treffen durften. Björn Wederhake (BW) und Thomas Kögel (TK) sprachen mit Luke Pearson natürlich über Hilda und ihre Welt, aber auch über seine anderen Arbeiten, Spielzeugfiguren aus Vinyl und die Angst, als Schwindler enttarnt zu werden.
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BW: Wieviele Interviews hast du dieses Wochenende schon gegeben?
Luke Pearson: Nicht viele. Nur zwei.
BW: Konntest du das Wochenende genießen und ein paar Sehenswürdigkeiten besuchen? Ich habe gehört, du hattest ziemlichen Jetlag hattest, als du hier angekommen bist.
LP: Eigentlich nicht. Ich habe mir selbst Jetlag gemacht. Ich meine, mein Flug hat nur zwei Stunden gedauert – ich habe nur nicht besonders gut geschlafen. Und ich habe nicht sonderlich viel gesehen. Die meiste Zeit saß ich in diesen Gebäuden fest und es hat die ganze Zeit geregnet.
TK: Das mit dem Wetter tut uns Leid.
LP: Ich glaube, das ist meine Schuld. Ich hab’s mitgebracht.
BW: Wir haben gedacht: “Britisch.” Dann wirst du dich mit einem kleinen bisschen Regen ganz wie daheim fühlen.
LP: Ja, ja.
TK: Es war also nicht zu stressig für dich. Wirst du trotzdem froh sein, wenn’s vorbei ist?
LP: Nein, nein. Es war bisher wirklich gut. All die Signierstunden haben irgendwie Spaß gemacht. Hier ist vermutlich mehr los als an jedem anderen Ort, wo ich sowas bisher gemacht habe. Ich denke, ich habe auf jeden Fall mehr Comics signiert als bei jedem anderen Festival, auf dem ich war. Es war bisher wirklich nett. Ich hab’s genossen.
TK: Und ich habe gehört, du hast in der nächsten Zeit noch weitere Termine in Deutschland.
LP: Ja, ich bin insgesamt für etwa zwei Wochen hier. Zuerst geht es nach Frankfurt, dann kurz nach Berlin. Und dann fahre ich zum OCX-Festival nach Oslo, zusammen mit Nobrow. Danach komme ich zurück und nehme an einer Veranstaltung im Hamburger Literaturhaus mit Ulf K. teil, und dann fahre ich endlich heim. Ist irgendwie schon eine lange Tour, die längste, die ich bisher in Sachen Comics gemacht habe.
BW: Hast du sowas erwartet, als du angefangen hast zu zeichnen und Comics zu machen? Dass sowas mal dein Leben sein würde? Dass du drei Wochen lang keine Städte siehst, sondern nur das Programm abspulst?
LP: Nein, gar nicht. Es war alles wirklich cool. Wenn ich ehrlich bin, habe ich das am wenigsten erwartet. Das ist vielleicht die einzige Chance für mich, an diese verschiedenen Orte zu kommen und ja, das ist interessant. Wenn ich die Chance bekomme, wegen meinen Comics irgendwo hinzufahren, dann versuche ich, die auch wahrzunehmen. Und ich weiß, eigentlich sollte ich wirklich zuhause sein und arbeiten. Ich bin mit ‘ner ganzen Menge Zeug im Rückstand, aber … was soll’s. Ich war zum Beispiel nie zuvor in Deutschland und ich mag es, all diese Städte zu sehen. Wer weiß, wann ich die nächste Gelegenheit bekomme.
TK: Du erwähntest bereits Nobrow, den Verlag, bei dem deine Comics in England erscheinen. Wie habt ihr zusammengefunden und wie sind all diese Projekte entstanden?
LP: Nun, ich habe sie entdeckt, während ich Illustration studiert habe. Sie haben mal einen Illustrationswettbewerb abgehalten, ich glaube, das war in meinem letzten Studienjahr. Und das war genau das Ding, das ich zu der Zeit gemacht habe, einfach nur an Wettbewerben teilnehmen. Also habe ich teilgenommen und sie haben mich fast sofort danach kontakiert. Sie haben sich wohl auch mein Blog angeguckt, auf dem ich schon ein paar Comics veröffentlicht hatte, aber ich hatte noch nichts selbstverlegt. Nobrow startete gerade mit der Reihe 17 x 23, von der Hildafolk ein Teil ist. Man hat mir also im Grunde das Format vorgegeben [17 mal 23 Zentimeter, die Seitengröße der Buchreihe, Anm. d. Red.] und ich musste mir jetzt etwas ausdenken, was ich damit machen wollte. Hilda war da noch keine vollständig ausgearbeitete Figur, aber ich hatte sie schon entworfen und ein paar Mal gezeichnet, und ich hatte eine sehr vage Idee von der Welt, in der sie lebte.
Ich musste mir also schnell etwas einfallen lassen und ich schätze, Hilda lag da gerade einfach rum. Vielleicht hatte ich erst kurz davor an das Bild gedacht, also habe ich einfach dieses eine Bild an Nobrow geschickt. Ich sagte: “Das hier vielleicht?” Und dann haben sie mir auch ein paar Ideen vorgeschlagen, ich habe es also zu dem Zeitpunkt ihnen überlassen. Aber ihnen hat das alles gefallen, und so entstand Hildafolk. Und ziemlich schnell danach habe ich Everything We Miss gemacht, vielleicht ein halbes Jahr später. Nobrow war nämlich sehr entgegenkommend und sehr darauf aus, dass ich noch etwas anderes mache. Und zu diesem Zeitpunkt wollte ich einen erwachseneren Comic machen. Die Stimmung und der Tonfall, den ich in Everything We Miss verwende, spiegelt wider, wie ich mich zu jener Zeit fühlte. Solche Comics wollte ich damals machen. Hilda war nämlich fast so etwas wie eine Überraschung für mich. Ich habe mich eigentlich nicht als Zeichner von Comics für Kinder oder “all ages”-Comics gesehen. Ich hatte da vielleicht Interesse dran, aber das war nicht unbedingt das, woran ich die meiste Zeit dachte.
BW: Im Grunde ist es ja so, dass in Rezensionen deiner Hilda-Comics eigentlich immer steht: “Kinder werden das mögen, Erwachsene aber auch.” Aber als ich Hildafolk gelesen habe, war ich mir gar nicht so sicher, ob ich das einem Kind geben würde. Da steckt schon viel Düsteres drin, vor allem wenn ich an das Holzmännchen denke und daran, was es sagt. Ich fand das schon alles sehr schön, aber auch irgendwie ziemlich deprimierend. [Luke lacht.] Vielleicht würde ich den Begriff “Melancholie” verwenden.
LP: Ja, ich schätze, das habe ich schon bewusst so gemacht. Ich wollte es nicht gezielt düster gestalten, aber es sollte … wie soll ich sagen … sehr nüchtern und selbstverständlich wirken. Ich wollte die Welt mit diesen fantastischen Elementen bevölkern, aber Hilda sollte sich durch nichts davon irritieren lassen. Sie zeigt keine große Ehrfurcht oder ist besonders überrascht von dem, was da passiert. Und ich wollte, dass alles irgendwie ruhig ist und vielleicht ein wenig melancholisch.
BW: Du hast gesagt, dass du die Welt von Hildafolk schon ziemlich weit im Kopf entwickelt hattest. Wieso hast du dieses Setting gewählt, diesen pseudoskandinavischen Ort, der ein wenig an Peer Gynt erinnert?
LP: Das ist einfach etwas, das mich damals interessiert hat. Die Saat wurde in einem Projekt gestreut, das ich an der Uni gemacht habe, wo wir die Karte eines Landes illustrieren sollten. Jedem wurde ein Land zugeteilt und ich bekam Island, glaube ich. Und dadurch fing ich an, mich in isländische Volkssagen einzulesen, ich hatte ohnehin schon ein lockeres Interesse daran. Mir hat einfach die Stimmung sehr gefallen, die das abgab. All das über diese kleinen Leute, die Seite an Seite mit normalen Menschen in ganz alltäglicher Weise leben. Ich weiß nicht, diesen Kram hatte ich im Kopf und ich habe mir viel darüber angelesen. Vieles von dem, was sich in Hildas Welt findet, stammt daher. Aber es ist gleichzeitig mit Dingen vermengt, die ich mir einfach ausgedacht habe. Es ist also keine direkte Umsetzung der isländischen Sagen, aber die sind schon der zentrale, größte Einfluss. Die Elflinge zum Beispiel sind ziemlich direkt davon übernommen. Und offensichtlich habe ich versucht, das Gefühl, das ich beim Lesen dieser Geschichten hatte, visuell umzusetzen.
Und ich glaube, Hildafolk ist deswegen irgendwie melancholisch, weil ich versucht habe, die Stimmung dieser Geschichten nachzubilden. Das sind nämlich mündlich überlieferte Volkssagen, die einfach nur nacherzählt wurden und nicht aufgeschrieben. Oder, wenn sie aufgeschrieben wurden, dann in einer sehr schlichten Sprache, die sehr direkt und nur wenig beschreibend ist. Und sie sind auch sehr kurz. Da werden einfach nur Ereignisse aufgelistet, verrückte, surreale Ereignisse, aber auf eine fast desinteressierte Art. Sie erzählen eine Geschichte und dann endet die einfach urplötzlich. Hildafolk hat sogar einen noch abrupteren Schluss. Der Comic ist ja sowieso kurz, also war von Anfang an klar, dass es keine lange Geschichte werden würde. Aber ich glaube, im ersten Entwurf habe ich es sogar noch plötzlicher enden lassen. Aber dann haben wir beschlossen, es etwas aufregender zu gestalten. Am Anfang gab es da gar keine Bedrohung durch den Troll. Die Geschichte hat einfach irgendwie aufgehört.
BW: Ist diese Sachlichkeit, diese Trockenheit auch der Grund, warum du so eine gedeckte Farbpalette gewählt hast?
LP: Ich weiß nicht, ob da ein Zusammenhang besteht. Aus irgendeinem Grund ist das einfach die Art, in der ich koloriere. Das scheint einfach mein Ding zu sein. Ich bin nicht ganz sicher, woher das kommt.
BW: Aber du hättest auch kein Interesse, auch mal zu sagen: “Jetzt mache ich es mal ganz anders und arbeite mal mit knalligen Farben”?
LP: Eigentlich nicht. Wenn ich koloriere, dann kommen mir die Farben eigentlich gar nicht gedeckt vor. Ich fand, dass Hilda ein sehr farbenfroher Comic war. Ich wollte ganz bewusst eine eingeschränkte Farbpalette verwenden. Ich weiß nicht, ich mag die meisten sehr bunten Comics nicht. Die interessieren mich ästhetisch nicht, wenn sie Farben verwenden, ohne darüber nachzudenken. Mir gefällt es, wenn alles so aussieht, dass es zusammen Sinn ergibt. Das hat dann wohl zu etwas geführt, das gedeckt wirkt.
BW: Wir wissen ja jetzt, dass Hildafolk dieses Format hat, weil Nobrow das für diese Reihe vorgibt. Wenn du dir jetzt die anderen Formate deiner Comics anguckst: Warum hast du die ausgewählt und gibt es Formate, mit denen du gerne mal ein wenig experimentieren würdest? Wenn man zum Beispiel sieht, wie Chris Ware in Sachen Format völlig ausflippt? Hast du diese Formate gezielt ausgewählt? Also, gab es da komplette Ideen dahinter oder war das nur “Hilda und der Mitternachtsriese ist auch für Kinder, also machen wir’s ein bisschen größer” und Everything We Miss ist einfach das Standardformat?
LP: Everything We Miss ist im Grunde nur ein weiteres Standardformat. Nobrow hatte zu der Zeit eine kleine Reihe von Comics rausgebracht, die zusammenpassen würden. Und sie haben mir quasi die Wahl gelassen. Ich wusste nicht so recht, was ich als nächstes machen wollte, sie haben mir ein paar Sachen vorgeschlagen und mir gefiel die Idee, etwas zu machen, dass ungefähr diese Größe hatte. Sie hatten schon ein paar andere Bücher mit den gleichen Maßen gemacht, zu denen das gut passen würde. Das war also einfach der Grund, was nicht sonderlich interessant ist.
Aber die Hilda-Comics? Ich schätze zum Teil sind die einfach größer, weil sie sich an Kinder richten. Ich habe eine gewisse Nostalgie für diese Albengröße verspürt. Und zu dem Zeitpunkt wusste ich, dass es eine Serie werden soll. Der erste Band war nie als Teil einer Reihe gedacht. Ich hatte vielleicht höchstens im Hinterkopf, dass es eine Art Pilot sein könnte. Ich habe mich daran erinnert, wie ich Tim & Struppi und Asterix gelesen habe, als ich ein Kind war, und ich mochte die Idee, mit dieser Tradition zu spielen. Vermutlich hätte ich das nicht so interessant gefunden, wenn ich ein französischer Comiczeichner wäre, denn wenn man [die Hilda-Alben] dort in einem Laden sieht, gehen sie unter all den anderen Alben irgendwie unter. Aber ich dachte, dass es in Großbritannien eine interessante Sache wäre, die man machen könnte, weil man dieses Format dort normalerweise nicht sieht, außer in der Abteilung für europäische Importcomics. Es sticht also wirklich hervor, deshalb wollte ich das so machen.
BW: Du sagst, du empfindest Nostalgie für Tim & Struppi und Asterix. Sind das die Comics, die dich auf den Weg gebracht haben?
LP: Teilweise. Mich haben alle möglichen Comics auf den Weg gebracht, wie das vermutlich bei den meisten Leuten so ist. Aber Asterix ist wahrscheinlich eine meiner frühesten Comic-Erinnerungen. Mein Onkel hatte ein großes Bücherregal und ich glaube, er hatte alle Bände. Und die habe ich gelesen, bevor ich alt genug war um wirklich zu verstehen, was ich da eigentlich lese. Bestimmt haben sie irgendwie eine große Rolle in meiner Entwicklung gespielt. Beim Nachdenken über Panelstruktur und Layouts für [die Hilda-Reihe] habe ich viel an diese Comics gedacht. Was ganz interessant ist, weil das ja sehr traditionelle Comics sind.
Aber du hast Chris Ware erwähnt und das fühlt sich seltsam an, weil solche Arbeiten genau das sind, was ich tun wollte und immer noch zu tun hoffe und was ich in meinen Arbeiten vor Hilda versucht habe, in meinen Kurzgeschichten und Beiträgen in Anthologien. In solchen Comics bin ich immer noch am Experimentieren. Es ist fast schon versehentlich passiert, dass ich die Hilda-Comics gemacht habe und ich genieße es wirklich, sie ziemlich traditionell zu gestalten. Interessanterweise habe ich kurz vorher mit Nobrow über einen wirklich großen Comic gesprochen, den ich machen wollte … so eine Art Ein-Mann-Anthologie. Ganz viele unterschiedliche, riesengroße Seiten mit komplizierten, irren Layouts. Das wollte ich machen. Und vielleicht will ich das immer noch, aber jetzt gibt es zufällig diese Serie und die ist jetzt mein Ding, das ich bis zu einem gewissen Punkt durchziehen möchte.
BW: Wer sind denn eigentlich deine Vorbilder, jetzt wo wir Chris Ware schon erwähnt haben? Wenn ich mir diese Seite aus Everything We Miss anschaue, dann habe ich schon das Gefühl, dass da viel Chris Ware drinsteckt. Einige andere Seiten erinnern ein wenig an James Kochalka. Welche Künstler beeinflussen also deinen Stil?
LP: Ich weiß es nicht, das sind viele. Chris Ware auf jeden Fall, der steckt immer ein wenig in meinen Zeichnungen drin. Ich zähle immer die selben Leute auf, wenn ich diese Frage beantworte, auch wenn ich mich in letzter Zeit gar nicht mit ihnen beschäftigt habe. Ich sage immer Chris Ware, und dann …? Und ich habe keine Ahnung, wie groß sein Einfluss jetzt noch ist, aber er ist immer irgendwie da.
Aber ja, Kochalka. Wäre mir nie in den Sinn gekommen, das zu sagen, aber es stimmt definitiv. Ich habe jahrelang jeden Tag American Elf gelesen. Also ja, der hat mich schon ziemlich geprägt. Und Kevin Huizenga – ich habe das Gefühl, dass der einen sehr großen Einfluss auf den Look von Everything We Miss hatte.
TK: Stimmt, die Gesichter sehen sehr ähnlich aus.
LP: Und dann sind da noch die Leute, die bei What Things Do mitmachen, so wie Jordan Crane, der vermutlich auch ein großer Einfluss ist. Aber ich glaube, dass meine Einflüsse sich von Comic zu Comic unterscheiden. Ich habe eindeutig nicht das Gefühl, dass diese Jungs besonders relevant sind, wenn ich Hilda zeichne. Vielleicht ein kleines bisschen, unterbewusst. Aber da ziehe ich meine Einflüsse aus einem anderen Referenzpool. Vielleicht aus einer ganz anderen Tradition der Comickunst.
BW: Du hast gesagt, Everything We Miss war etwas, was du damals machen wolltest, weil du das Gefühl hattest, dass das gerade in dir drin steckte. Was ist also der Grund für Everything We Miss? Denn das ist ja wirklich finster, also wo kam das her?
LP: Vor allen Dingen glaube ich, das kam daher, dass ich gerade Hildafolk fertiggestellt hatte und etwas beweisen wollte [lacht]. Es ist finsterer als … also, mein Kopf war damals nicht besonders … ich hatte jetzt keinen Zusammenbruch oder sowas. Ich glaube, die Leute halten es für autobiographisch, aber das ist es eigentlich nicht. Es ist so autobiographisch, wie alles ist, aber höchstens indirekt. Es ist also nicht so, dass ich damals besonders schlecht drauf gewesen wäre. Tatsächlich ging es mir sogar sehr gut, als ich es gezeichnet habe. Das Buch zu machen, war vielleicht eine der besten und angenehmsten Erfahrungen, die ich je beim Zeichnen hatte, viel angenehmer und entspannter als beim Zeichnen irgendeines Hilda-Comics. Hilda ist seltsam.
BW: Kannst du dir vorstellen, etwas zu machen, dass völlig realistisch ist? Denn auch in Everything We Miss stecken ja diese kleinen, magischen Momente, die komischen Szenen, wie die Wesen, die mit Asteroiden werfen. Ich habe überlegt, wie ich das nennen soll. Ist das schon Magischer Realismus oder ist das etwas anderes?
LP: Vielleicht.
BW: Also, kannst du dir vorstellen, einen Comic zu machen, bei dem du sagst: „Okay, ich lasse all diese niedlichen und seltsamen Elemente weg und erzähle ein ganz schlichte Geschichte“?
LP: Ja, kann ich. Das würde ich gerne. Um ehrlich zu sein, der Grund, warum ich das nicht getan habe, ist … wahrscheinlich liegt das an meinen Unsicherheiten als Autor? Vielleicht verwende ich diese Elemente als eine Art Krücke. Eine geradlinige, realistische Geschichte muss einem ganz genauen Blick standhalten. Ich meine, das sollte jede Geschichte, aber wenn man ein paar mysteriöse Elemente mit reinwirft, schafft man damit eine weitere Ebene, auf der die Erzählung interessant ist. Daran wird es bei mir vermutlich liegen.
Aber das ist nicht der eigentliche Grund für die fantastischen Elemente in Everything We Miss, denn die machen offensichtlich einen großen Teil des Comics aus. Und ich mag diese Dinge einfach. Es ist interessant, sie zu zeichnen und sie erschienen da einfach angemessen.
Aber ich würde schon irgendwann gerne etwas Schlichtes machen. Mein nächster Comic für Erwachsene – was auch immer das sein mag – könnte so etwas werden. Aber wie’s aussieht, habe ich mich noch nicht entschieden, was es wird.
BW: Möchtest du das Gefühl haben, die ganze Kontrolle über deine Comics zu besitzen? Immerhin schreibst und zeichnest du sie. Oder kannst du dir auch vorstellen, eine Geschichte für einen anderen Zeichner zu schreiben oder die Geschichte von jemand anderem zu zeichnen, der sie dir zuschickt und sagt, du wärst der richtige Künstler dafür?
LP: Hm, ehrlich gesagt mag ich es, die Kontrolle zu haben. Ein paarmal stand ich kurz davor, die Geschichte von jemand anderem zu zeichnen. Aber letztendlich habe ich da kein sonderliches Interesse dran. In kleinen Portionen kann sowas interessant sein, vielleicht bei einem vierseitigen Kurzcomic oder sowas. Und das habe ich tatsächlich schon getan. Ich habe einen kleinen Comic zusammen mit Philippa Rice gemacht, die jetzt meine Freundin ist. Das war eine sehr spaßige Erfahrung. Aber auf Buchlänge würde mich das nicht interessieren. Ich hätte nicht das Gefühl, dass es mein Ding wäre. Für mich wäre es zu viel Arbeit und zu viel Zeit, für etwas, was nicht meins ist. Für etwas, mit dem ich mich nicht besonders verbunden fühle oder worauf ich besonders stolz wäre.
Was das Schreiben angeht: Das wäre möglicherweise interessant, aber ich sehe mich zurzeit nicht als sonderlich guten Autor. Vielleicht später mal, wenn ich mehr Selbstsicherheit darin habe. Aber ich habe immer das Gefühl, dass das der schwächste Teil meiner Arbeit ist, und das stört mich. Das ist der Teil, über den ich mir die meisten Sorgen mache, glaube ich. Also, ich hätte nicht die Nerven, jemanden zu bitten, dass er meine Geschichten zeichnet.
TK: Wenn du deinen Schreibstil verbessern willst, liest du dann Bücher über das Schreiben? Drehbuch-Ratgeber oder so etwas?
LP: Nein, ehrlich gesagt nicht. Ich lese gerade ein Buch über Filmregie, wobei ich nicht anstrebe, Regisseur zu werden. Aber ich habe im Hinterkopf, dass das viel mit der Struktur von Geschichten zu tun hat, und auf die Art denke ich darüber nach. Und ich übernehme ein paar Sachen davon. Aber das ist eng mit Hilda verbunden, weil ich da ziemlich kompakte, abgeschlossene Geschichten erzählen möchte, die sehr kohärent sind und wo alles rund und sehr kontrolliert ist.
Bei meinen anderen Arbeiten hingegen … da würde es mich nicht sonderlich stören, wenn keine traditionelle Struktur vorhanden wäre oder wenn es am Ende noch lose Fäden gäbe.
TK: Auf deiner Website sind ein paar Arbeiten über Musik zu sehen. Daher würde mich interessieren: Hörst du beim Zeichnen und Schreiben Musik oder würdest du den Lesern Musik empfehlen, die sie zu deinen Comics hören können?
LP: Eher nicht, ich weiß nicht. Ich fühle mich immer sehr unsicher und peinlich berührt, wenn es um meinen Musikgeschmack geht [lacht]. Ich rede eigentlich nie darüber, weil ich nicht weiß, was cool ist [lacht]. Keine Ahnung, das finde ich immer seltsam. Ich höre schon Musik [pausiert] … aber nicht, wenn ich zeichne. Ich habe meistens das Gefühl, dass ich in einer stillen Atmosphäre arbeiten muss, vielleicht mehr als andere. Und ich lasse mich sehr leicht ablenken. Ich kann nicht denken, wenn ich irgendetwas höre. Das beeinflusst mich auf jeden Fall.
TK: Du konzentrierst dich also lieber ganz auf die Seite.
LP: Ja. Ich höre schon mal Musik, wenn ich tusche. Wahrscheinlich, weil das ein etwas mechanischerer Vorgang ist. Und beim Kolorieren auch, denn das ist ein sehr mechanischer Vorgang.
BW: Wie gehst du mit den Dingen um, die dir im letzten Jahr passiert sind? Ich meine, die Presse liebt deine Comics, ich habe bisher noch kein schlechtes Wort darüber gelesen.
LP: [lacht]
BW: Du kommst zu diesen Festivals und wirst als Ehrengast behandelt, als jemand Besonderes. Und du wirkst sehr … naja, eher still, eher zurückhaltend. Ich meine, schon die Art wie du da sitzt …
LP: [lacht]
BW: Das ist in Ordnung, ich mach’s ja nicht anders. Aber … fühlt sich das für dich natürlich an? Du kommst mir nicht vor wie ein Typ, der sagt: “Jawoll! Super! Hier bin ich!”
LP: [lacht] Ähm, tja. Ich weiß nicht. [pausiert] Ich glaube, jeder, der sich Lob im Comicbereich zu sehr zu Kopf steigen lässt, ist ein Narr. Das ist alles wirklich schön und ich bin dafür dankbar. Ich bin superglücklich, dass den Leuten meine Arbeit gefällt. Aber gleichzeitig ist das auch seltsam. Eine Art Parallelwelt. Es sind nur Leute aus der Comicwelt, und auch nur aus einer bestimmten Nische davon, denen meine Sachen etwas bedeuten. Ich habe das Gefühl, dass vieles davon nur Schall und Rauch ist.
BW: Aber trotzdem: Bist du selbstsicherer geworden? Du sprichst ja viel von deinen Unsicherheiten und von Dingen, bei denen du findest, nicht so gut darin zu sein.
LP: Nein. Wenn überhaupt, habe ich das Gefühl, als stünde ich die ganze Zeit kurz davor, dass mir jemand auf sie Schliche kommt. Als hätte ich alle ausgetrickst und getäuscht. Ich schätze, irgendwann wird die Welle brechen und dann werden die Leute merken, dass das alles ein Fehler war.
BW: Lass uns das Thema wechseln, ich will dich nicht zu sehr in Verlegenheit bringen. War nur etwas, das mir gerade in den Sinn kam.
Hat man dich auf Hilda-Merchandising angesprochen? Weil: Niedliche Tiere, Stofftiere, Geld. Ist das etwas, was für dich in Frage käme, oder würdest du es wegen künstlerischer Integrität – oder was auch immer – ablehnen?
LP: Naja, wir haben schon etwas Hilda-Merchandising produziert. Aber Nobrow will nicht, dass das irgendeine andere Firma macht. Aber wir haben kürzlich eine Vinylfigur von Hilda gemacht. Die ist einfach nur cool. Das ist schön, aber zu viel Merchandise würde ich nicht wollen. Bei der Vinyl-Hilda ist es so, dass es eine wirklich schöne Figur geworden ist. Ich hatte wirklich Lust darauf … es hat einfach Spaß gemacht, so etwas zu entwerfen und dann zu sehen, wie es Wirklichkeit wird. Außerdem war es auf eine seltsame Art eine wirklich nützliche Zeichenübung, weil ich sie einmal in ihrer Gänze zeichnen musste.
TK: Dreidimensional …
LK: … und ich musste lernen, Dinge zu zeichnen, um die ich mich bisher herumgemogelt hatte: ihre Haare zum Beispiel. Das ist tatsächlich der Grund, warum sie jetzt so aussieht. In Hilda and the Bird Parade sieht sie jetzt im Grunde so aus, wie ich sie als Spielzeug gezeichnet habe. Mir wurde klar, ich kann ihr Haar aus jedem Blickwinkel zeichnen, wenn es so ein seltsamer Klumpen ist. Aber bisher habe ich es immer nur vage in eine Richtung wehend gezeichnet, so wie in Hilda und der Mitternachtsriese.
TK: Sie sieht jetzt mehr nach Zeichentrickfilm aus.
LP: Ja.
TK: Das führt mich zu meiner nächsten Frage. Ist das etwas, das du dir vorstellen kannst: eine Trickfilmserie im Fernsehen oder eine Verfilmung von Hilda?
LP: Ja, vielleicht. Dafür wäre ich offen. Aber das hängt davon ab, wie sich die Dinge entwickeln. Hilda wurde nicht mit einer Film- oder Fernsehadaption im Hinterkopf designt. Aber gleichzeitig habe ich Interesse an Animation und irgendwie hat das auch ihr Design und meine Art zu zeichnen beeinflusst. Ich wollte immer, dass sie sie sich wie eine körperlich existierende Figur anfühlt, die so aussieht, als könnte sie… ähm, wie erkläre ich das? Ich wollte, dass sie ein gewisses Gewicht hat und so aussieht, als wenn sie sich wirklich bewegt. Auf diese Art werde ich schon von Animation inspiriert.
BW: Also, was ist das nächste Projekt, das du im Kopf hast oder an dem du schon arbeitest, das nichts mit Hilda zu tun hat?
LP: Ich habe tatsächlich gerade kein großes Projekt, auf das ich hinarbeite. Ich arbeite an vielen anderen Comics für Anthologien oder andere Veröffentlichungen. Ich neige dazu, jede Chance zu nutzen, die sich mir bietet, wenn es mir interessant erscheint oder wenn es etwas ist, wovon ich gerne ein Teil wäre. Ich nutze das gerne als Vorwand, um Comics von ein bis vier Seiten Länge zu machen. Und die sind normalerweise sehr unterschiedlich. Ich verändere da oft meinen Stil und probiere verschiedene Sachen aus.
Ich habe noch ein paar andere Sachen gemacht, die mit Comics zu tun haben, zum Beispiel diesen großen Comic für eine Ausstellung im Victoria and Albert Museum in London. Das ist so eine Art großer, fünf Meter langer Comic an einer Wand, das fand ich interessant. Aber das war nach dem Skript von jemand anders. Ein neues Buch schwirrt mir aber gerade nicht im Kopf herum.
Ich denke immer, so eine Sammlung von Kurzgeschichten wäre schön. In mir steckt zur Zeit jedenfalls keine Graphic Novel. Oder zumindest habe ich nichts gefunden, das mir so sehr am Herzen liegt, dass ich damit einige Jahre meines Lebens verbringen würde. Aber das wird sicher irgendwann passieren.
TK: Du übernimmst auch Illustratorenjobs für Magazine, Titelbilder für den New Yorker und ähnliches. Neulich habe ich eine Illustration von dir im SZ-Magazin gesehen.
LP: Ja.
TK: Ich schätze, dass du auch aus Geldgründen zwischen Comics und Illustrationen abwechslen musst. Wie schaffst du es, das im Gleichgewicht zu halten?
LP: Ähm … [pausiert] Illustrationen machen mir Spaß und ich sehe das überhaupt nicht so, dass Illustrator mein langweiliger Hauptberuf ist und ich nur darauf warte, endlich Comics zeichnen zu können.
TK: … wobei es bei einigen Comiczeichnern genau so läuft…
LP: Ja, manchmal geht es mir auch ein bisschen so. Aber, ich meine, ich habe Illustration studiert und bis ganz zum Ende war ich darauf vorbereit, einfach nur als Illustrator zu arbeiten. Darum habe ich da kein Problem mit und genieße es. Und ehrlich gesagt mache ich gar nicht so extrem viele Illustrationen. Ich hatte da wirklich viel Glück. Es fällt mir nicht allzu schwer, an Aufträge zu kommen. In der Regel funktioniert meine neueste Illustration immer als Werbung, die mir den nächsten Auftrag bringt. Es scheint so, als wenn hauptsächlich interessante Dinge ihren Weg zu mir finden. Da habe ich sehr viel Glück gehabt. Ich musste noch nie einen Job machen, der zwar richtig gut bezahlt war, aber an dem ich überhaupt kein Interesse hatte. Das waren alles coole Sachen. Und häufig gibt es da so eine seltsame Verbindung. Viele Auftraggeber scheinen jetzt Illustrationen im Stile eines Comics zu wollen, den ich gemacht habe, oder sogar etwas, das einfach ein Comic ist.
Obwohl, eine Sache, die ich definitiv nicht mache oder immer ablehnen würde, sind Werbecomics oder so etwas. Denn das würde irgendwie meine Seele vergiften. Das könnte ich nicht tun. Aber ich genieße die Überraschungen sehr, die es mit sich bringt, wenn man nur ein einzelnes Bild zu zeichnen hat, das man so interessant und nützlich wie möglich gestalten muss.
Aber was die Balance zwischen den Aufträgen angeht, die gelingt mir nicht sehr gut. Ich komme immer ins Straucheln und dann ergibt sich ein Illustrationsangebot und das zerschießt mir völlig den Zeitplan für die Woche. Ich denke dann, das schaffe ich in ein paar Tagen und dann dauert es doch einige Tage länger. Und ich habe das Gefühl, dass ich dauernd hinterherhinke und gehetzt bin.
TK: Das Problem hat wahrscheinlich jeder Künstler.
LP: Ja.
TK: Das war’s, glaube ich. Herzlichen Dank, Luke!
Abbildungen: © Luke Pearson / Nobrow Press / Reprodukt / Süddeutsche Zeitung Magazin
Foto: © Siegfried Scholz/Splashcomics, CC BY-NC-SA 3.0)
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