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Interview mit Fahr Sindram

Comicgate: Hallo Fahr! Worum geht’s bei deinem Manga Losing Neverland?

Fahr Sindram: Kurz gesagt: Ein minderjähriger Junge geht auf den Strich und tut es nicht gern.

CG: Mit diesem Manga wendest du dich gegen so genannte Shotacons. Das sind Mangas, in denen sich ein Erwachsener sexuell zu kleinen Jungen hingezogen fühlt. Sind Shotacons ein Trend?

FS: Durchaus. Ich könnte mir aber vorstellen, dass dieser Trend zu einem Dauerbrenner wird. Das zieht auch immer mehr in normale Mangas ein. Niemand in den Medien weiß, dass die Pornographie, die in Japan mit kleinen Jungen betrieben wird, viel größer ist als die mit kleinen Mädchen.

CG: Wie bist Du überhaupt auf die Thematik zu Losing Neverland gekommen, und inwieweit hast Du dafür recherchiert?

FS: Ich habe das Thema schon sehr lange im Kopf gehabt, schon seit 1998 oder so.
Recherchiert habe ich Tatsache lange und breit, ich hab so um die 18 Bücher über das Thema gelesen, Filme angesehen und all das. Am Ende war ich richtig fertig, aber ich glaube, ich kann dadurch einiges besser beschreiben.
Am Anfang ging es allerdings noch um den kleinen Tim, aber je länger ich an der Story arbeitete, desto stärker rückte Laurie in den Vordergrund.
[links: Bleistiftskizze zu Losing Neverland]

CG: Ein Junge, der gezwungen wird, auf den Strich zu gehen – glaubst Du nicht, mit dieser Rahmenhandlung ziehst Du eher noch die Aufmerksamkeit der falschen Zielgruppe auf sich? Wie machst Du Dein Anliegen/Deine Richtung in Deinem Manga deutlich?

FS: Dass ich völlig gegen Shotacon und alles derartige bin erklärt sich mit dem Manga selbst. Ich werte zwar nicht, zeige aber, dass es einfach grausam ist, einem Kind so etwas zuzumuten bzw. Missbrauch immer ein Verbrechen ist.

Ich erhebe keinen Zeigefinger, aber ich sage, wie es ist. Und im Nachwort wird dann noch einmal im Klartext gesagt, was Shota genau ist und warum es genauso Kinderpornografie ist wie alles andere.

CG: Wie hat das Publikum bis jetzt darauf reagiert?

FS: Leider gab es nicht nur positive Reaktionen. Ich hätte mir gewünscht, dass die Leute sagen: „Das ist eine gute Sache. Man muss unterstützen, dass Kinderpornografie eingegrenzt wird. Endlich kommt ein aufrüttelnder Text.“
Am Anfang haben mir aber die meisten geschrieben, ich sei eine prüde Kuh. Ich wäre verklemmt, ich würde keinen Spaß verstehen, ich wäre frigide. In Bezug auf die Geschichte kamen so Sachen wie: „Der soll gefickt werden, bis er Blut kotzt. Das will ich sehen, mit ganz großen Latten!“ Ich habe dann einfach nicht mehr darauf geantwortet.

CG: Gab es nur solche Reaktionen?

FS: Nein, inzwischen haben sich die Reaktionen eingependelt. Nach einer Zeit des Schweigens kamen dann die ersten Leute, die geschrieben haben: „Mir ist dasselbe passiert.“ Und: „Ich musste weinen, als ich deinen Artikel gelesen habe.“ „Dein Manga berührt mich.“ Es haben sich mehrere Opfer bei mir gemeldet. Und da habe ich gedacht: Es kann nicht falsch sein, dass ich Losing Neverland mache.
Aber ich war schon sehr entmutigt am Anfang.
Ich bekomme pro Monat um die zwanzig E-Mails. Da ist es nun ziemlich gerecht verteilt.

CG: Wie verbreitet sind Shotacons in Japan bzw. wer ist dort die Zielgruppe?

FS: Die Zielgruppe in Japan ist meist weiblich, so wie in Deutschland auch, und die Mädchen sind vom Alter her 12 bis 30 aufwärts. Ich hatte angenommen, dass Männer so was lesen würden, da lag ich aber falsch.

CG: Erreicht das schon deutsches Lesepublikum?

FS: Ehapa (Ehapa Manga & Anime = EMA) bringt ab September 2006 einen Manga von Yun Kouga heraus, Loveless. Die Story handelt von einem zwölfjährigen Jungen, der einen 21-jährigen Kunststudenten trifft. Die beiden sind durch irgendein Band der Liebe miteinander verbunden. Es gibt da zwar keinen Sex, aber der Typ steckt dem Kleinen ständig seine Zunge irgendwo rein. Richtig heftig. Da wird geknutscht bis zum Geht-nicht-mehr. Auf den Kapitelvorsatzseiten trägt der Kleine Latex-Outfits, Strapse und Lack-und-Leder-Bondage-Kram.
In der Geschichte ist es so, dass die Kinder Katzenohren und -schwänze haben. Die verlieren sie, wenn sie Sex haben. Und dieser Typ meinte schon zu dem Kleinen: „Ich nehme Dir Deine Ohren noch nicht.“ Da kann man sich ausmalen, was noch kommt. TOKYOPOP bringt übrigens jetzt den Anime zur Serie heraus.

CG: Hast du mit Ehapa Kontakt aufgenommen?

FS: Ich habe mich im Forum von Ehapa mit den Redakteuren und den Usern etwas angelegt. Leider bin ich auf ziemlich taube Ohren gestoßen. Ich hatte gehofft, dass ein so guter Verlag wie Ehapa, den ich persönlich als den besten deutschen Mangaverlag ansehe, vielleicht begreifen würde, dass es eine bedenkliche Sache ist, diesen Manga uneingeschweißt und für ein junges Publikum zu produzieren bzw. überhaupt zu veröffentlichen. Meine Vorwürfe, dass es sich um einen Soft-Shotacon-Manga handele, wurden vehement zurückgewiesen. Gleichzeitig ist er aber im Preview als Adult-Manga angezeigt, also für Erwachsene. Ich frage mich: Wie kann das für Erwachsene sein, wenn es nichts Pornographisches ist bzw. eindeutig eine erotische Beziehung zwischen den Figuren besteht?*

CG: Gehört ein Schuss Erotik nicht bei Mangas dazu?

FS: Der Eindruck entsteht durch die Medien. Die meisten Mangas, die bei uns herauskommen, sind erotischer Natur. Oder haben unterschwellige Erotik. Aber in Japan ist das so breit gefächert wie in Europa und Amerika. Es gibt erotische Mangas und nicht-erotische Mangas. Mangas über Baustellenarbeiter, über Hausfrauen, über Superhelden, über Stripperinnen, über Kindergartenleiter, über Kinder, die in den Kindergarten gehen, über Eismänner, über Fahrraddiebe … Mangas haben nicht unbedingt etwas mit Erotik zu tun. Bloß: Die Erotischen kommen bei uns heraus, weil sie sich am besten verkaufen. Die ganzen normalen Mangas, wo Alltagsgeschichten erzählt werden oder Krimis oder ganze Epen – die bekommen wir meistens gar nicht.

CG: In vielen Actionfilmen gehört Erotik einfach dazu. Ist das bei Mangas nicht ähnlich?

FS: Kommt immer darauf an. Wenn der Manga als Blockbuster angelegt ist, spielt Erotik natürlich eine Rolle. Aber ich denke, es liegt in der Natur der Sache, dass es für jeden etwas geben muss. Beispielsweise habe ich jetzt – weil mein Manga für Männer nicht viel hergibt – der Schwester des kleinen Jungen, der darin vorkommt, ziemlich große Brüste gegeben. Einfach nur, um allen etwas zu geben. Und die Dinger wachsen und wachsen! Irgendwann müssen die mal aufhören größer zu werden. (lacht)

CG: Für wie nah am Leben hältst Du Deinen Manga?

FS: Naa jaaa! Der Manga spielt in einem erfundenen gotischen London des 19. Jahrhunderts, also insofern … Aber die Story ist bewusst real gehalten. Das meiste, was ich Laurie erleben lasse, ist so schon einmal passiert, irgendwo auf der Welt, und manches ist auch Leserbriefen und Berichten entnommen.

CG: Grundsätzlich magst du Mangas aber schon …?

FS: Ich liebe Mangas, gleichwertig mit Comics. Ehrlich gesagt nehme ich an, dass der Comic in den nächsten Jahren stark abflauen wird. Dann kriegen wir wahrscheinlich einen riesigen Überangebotsschwall von Mangas. Und dann gibt’s das große Comic-Revival. Darauf hoffe ich eigentlich. Vielleicht akzeptiert man dann, dass man Mangas und Comics gleichwertig lesen kann. Manga-Leser lesen keine Comics, Comic-Leser lesen keine Mangas – das ist für mich unverständlich. Ich habe bei mir zu Hause Enki Bilal genau neben Mangas stehen. Ich gucke Disney-Filme, ich gucke Ghibli-Filme. Entweder mag ich das oder ich mag’s nicht. Das hat nix mit einer Kultur oder Umsetzungsweise zu tun, sondern damit, ob die Geschichte stimmt und die Optik.

CG: Gibt es erotische Mangas, die dir gefallen?

FS: Ich möchte jetzt nicht wieder ein Klischee bestätigen, aber ich lese sehr gerne Shonen-Ai-Mangas, wo es um homoerotische Liebe geht. Aber ich möchte keinen Sex sehen. Ich möchte nur angedeutete Erotik und dann selber meine Phantasie ins Spiel bringen. Explizit möchte ich da nichts geboten kriegen.

CG: Ein Ausblick: Was wird aus Losing Neverland?

FS: Da habe ich schon ordentlich Bammel. Es wird eine fünfteilige Serie, die ins Französische, ins Englische und ins Japanische übersetzt werden soll. Entsprechend sollen in jedem Land Hotlines angegeben werden, an die sich betroffene Kinder wenden können.

CG: Und inhaltlich?

FS: Im nächsten Band (links: eine Seite aus Band 2) von Losing Neverland geht es darum, wie es eigentlich gekommen ist, dass Laurie anschaffen muss. Und wie sein Vater zu so einem brutalen Menschen werden konnte. Oder ob er schon immer ein brutaler Mensch war. Und wie Lauries Mutter gestorben ist. Und wie es mit seiner Beziehung zum kleinen Tim weitergeht. Das wird ja noch einigermaßen missbilligt. Er will sich einen Alltag schaffen und sieht das erste Mal wirklich einen Sinn im Leben.

CG: Weißt du schon, ob es ein gutes oder ein schlechtes Ende mit Laurie nehmen wird?

FS: Wenn’s nach mir geht, wird es ein schlechtes Ende geben. Aber wenn es nach meinem Redakteur geht, wird es ein gutes Ende nehmen. (lacht) Ich finde, ein Happy End passt nicht so recht dazu. Ein schlechtes Ende passt aber auch nicht. Ich brüte da noch über einer Alternative, die realistisch wirkt.

CG: Liebe Fahr, vielen Dank für das Gespräch!

FS: Vielen Dank! Comicgate ist immer eine Ehre!

*Wir baten EMA um eine Stellungnahme.
Ihre Antwort: „Loveless ist kein Shota. Pornografisches wird weder angedeutet noch explizit gezeigt. „Adult“-Status hat der Manga bei uns bekommen wegen der psychischen Problematik des Protagonisten (der Bruder ist tot, die Mutter ist verrückt) und der Darstellung der Kämpfe, die sich aufgrund der Fantasy-Thematik ergeben – und nicht aufgrund erotischer Inhalte.“

ACHTUNG: Autogrammstunden mit Fahr Sindram finden am 5. August in Zusammenhang mit einem Visu/Gothic&Lolita/Cosplay Event bei Modern Graphics (im Untergeschoss des Europacenters (Tauentzienstr. 9-12)) in Berlin und am 20. August von 11 bis 15 Uhr auf der Sammler-Börse NRW Herne statt!

Losing Neverland 1
Text und Zeichnungen: Fahr Sindram
Butter and Cream 2006, 125 S. (Softcover), schwarzweiß, 2 Farbseiten, 1 Klapp-Poster; 10,- Euro


bereits bestellbar über
butter-and-cream.com
In etwa zwei bis drei Wochen ist der Manga auch über Amazon u.ä. erhältlich.

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Homepage von Fahr Sindram: fahrlight.de

Limitierte Kunstdrucke von Losing Neverland bei freibeutershop.de

Fansite zu Losing Neverland

Paper-Theatre – die Manga-Anthologie bei Schwarzer Turm, an der Fahr mitarbeitet

Bildquellen: freibeutershop.de, fahrlight.de, amazon.de, amazon.jp, www.losing-neverland.uk.tt , modern-graphics.de, Fahr Sindram
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