„Sieht didaktisch aus“, war mein erster Gedanke, als ich Berlin – Geteilte Stadt durchblätterte, und bei einer Koproduktion des Avant-Verlags mit der Bundesstiftung Aufarbeitung ist das wohl auch so gewollt. Für das Projekt hat man einen ebenso simplen wie bewährten Ansatz gewählt: Man lässt Zeitzeugen sprechen und untermauert deren Anekdoten mit wissenschaftlichen Artikeln. Der einfache, geradlinige Aufbau der Anekdoten korrespondiert dabei aufs Trefflichste mit der Klarheit der Zeichnungen. Diese sind unspektakulär und mit reduziertem Strich, aber trotzdem dokumentarisch genau und zweckmäßig angelegt; ein Stil, der ja gerade bei den kleinformatigen Graphic Novels gerne verwendet wird und der oft etwas langweilig wirkt. Bei so einem Stil, selbst wenn er handwerklich ausgereift ist, muss der Text das Buch tragen können.
Auf jeden Fall beherrschen Susanne Buddenberg und Thomas Henseler das Einmaleins des grafischen Erzählens: Text und Bild ergänzen sich und bereichern sich gegenseitig. Redundanzen, die sich immer dann ergeben, wenn ein Bild nur zeigt, was der Text bereits beschreibt, beschränken sich auf Szenen, in denen die Dopplung von Bild und Text durchaus sinnvoll ist, zum Beispiel wenn am Tag des Mauerfalls ein Panel die Menschenmassen zeigt, die über die Brücke nach Westen gehen, und der Text ebenfalls genau diesen Vorgang beschreibt. Aber zunächst ist diese Dopplung der anekdotischen Erzählhaltung geschuldet, schließlich soll der Zeitzeuge auch eine gewisse Präsenz bekommen und sein Text auch wahrgenommen werden. Außerdem ist diese Art des Erzählens angenehm unprätentiös und schlicht. (Bild 1)
Gerade diese Zurückhaltung beweist aber auch das erzählerische Geschick von Buddenberg und Henseler, die es immer wieder schaffen, mit minimalen Mitteln Spannung zu erzeugen. Künstlich aufgebauschte Suspense-Momente sucht man vergeblich, sämtliche Spannung entsteht aus dem Alltag und den daraus resultierenden Situationen, die eben im Schatten der Berliner Mauer und des Zusammenpralls der Machtblöcke stehen. So zum Beispiel in der Geschichte der Ostberliner Abiturientin Regina Zywietz, die am Tag der Grenzschließung mit einigen Lehrern aus dem Westen unter falschem Namen die Ausreise schafft. Am Bahnsteig der S-Bahn in den Westen hat sie einen langen Blickkontakt mit einem DDR-Soldaten, den sie aus ihrer Jugend kennt. Die Begegnung ist folgenlos, aber allein das Verharren in diesem Moment macht die unheimliche Anspannung spürbar, die auf allen Akteuren lastet. Als Folge kann der Leser dann auch die Erleichterung mit den Flüchtenden teilen, als die S-Bahn im Westen ankommt. (Bild 2)
Ähnlich ist es bei der Geschichte des SED-Funktionärs Heinz Holzapfel. Er flüchtet mit seiner Familie spektakulär aus dem mauernahen Haus der Ministerien, indem er eine Seilbahn von Ost nach West spannt. Die Flucht wird von einem sowjetischen Beobachtungsposten wahrgenommen, aber da sie von einem Regierungsgebäude aus stattfindet, interpretiert dieser sie fälschlicherweise als Versuch der Stasi, unbemerkt Agenten in den Westen zu schleusen. Ein einziges Panel mit dem beobachtenden Wächter reicht, um das tatsächliche Gefahrenpotential dieses ohnehin waghalsigen Unterfangens deutlich zu machen. Würde das Panel fehlen, wäre die Flucht immer noch eine gute Geschichte, doch die tatsächliche Gefährdung wäre abstrakter, weniger greifbar und weniger furchterregend. (Bild 3) .
Jede der fünf Geschichten spielt zu einem anderen Zeitpunkt der Ära der Berliner Mauer, von der Grenzschließung, der langsamen Gewöhnung an den empörenden Zustand der Teilung bis zum Mauerfall. Dabei halten sich Berichte über individuelle Handlungen die Waage mit Berichten von aus nächster Nähe beobachteten Massenbewegungen. Am unglaublichsten davon ist vielleicht eine Geschichte von 1961: Sie handelt von der Flucht über Häuser, die zum Osten gehören, aber Ausgänge auf westlicher Seite haben. Ausgänge, die noch nicht zugemauert waren. Und während Grenzposten versuchen, die durch die Fenster Flüchtenden nach oben zu zerren, versuchen Helfer aus dem Westen die Verzweifelten nach unten zu ziehen. Westliche und östliche Polizisten stehen sich dabei immer wieder mit der Waffe gegenüber. Gerade hier offenbart sich der Irrsinn der ganzen Konstellation. Jeder einzelne hat einen vernünftigen Grund für seine Handlungen: Der Flüchtling, der helfende Westler und der Grenzsoldat, der seinen Dienst tut. Hier gibt es keine Gewinner und Verlierer, nur Menschen in der Tretmühle, die höchstens versuchen können, sich einen Rest an Selbstachtung zu bewahren. (Bild 4)
Man hat als Leser durchwegs das Gefühl, authentische Berichte zu lesen. Die einfachen Zeichnungen vermeiden darüber hinaus jede Art von Manipulation des Lesers, wie sie beim Film zum Beispiel durch den Einsatz von Musik stattfinden könnte. Die Einfachheit und Wahrhaftigkeit der Geschichten sind ihre große Stärke und machen Berlin – Geteilte Stadt zu einem Musterbeispiel des didaktischen, Wissen vermittelnden Comics. Die Gefühle, die beim Lesen entstehen, wirken lange nach.
Wertung:
Ein Musterbeispiel des Wissen vermittelnden Comics
Berlin – Geteilte Stadt. Zeitgeschichten
Avant-Verlag, Juli 2012
Text: Susanne Buddenberg, Thomas Henseler
Zeichnungen: Thomas Henseler
96 Seiten, schwarz-weiß, Softcover
Preis: 14,95 Euro
ISBN: 978-3-939080-70-1
Leseprobe
Abbildungen: © Susanne Buddenberg, Thomas Henseler, Avant-Verlag