Nachdem sich Teil 1 unseres Artikels um Comics im Allgemeinen drehte, widmen wir uns im zweiten Teil ausschließlich dem ur-amerikanischen Genre der Superheldencomics. Homosexuelle Heldinnen und Helden sind dort auch heute noch alles andere als eine Selbstverständlichkeit und werden nicht nur unter den Lesern, sondern auch in den US-Medien teils hitzig debattiert. Neben Kontroversen um das Sexualleben von Comicfiguren beleuchten wir Zensurmaßnahmen, den ersten gleichgeschlechtlichen Kuss unter Superhelden und überraschende Coming Outs von kostümierten Verbrechensbekämpfern.
„Ein Homosexueller kann kein Held sein.“ So lautete die nicht weiter begründete These eines aufgeregten Fanboys 2004 in einer Diskussion auf der Homepage von Autor Peter David, in der es um den Marvelhelden Northstar ging, der als erster dem eigenen Geschlecht zugeneigte Superheld von sich reden gemacht hatte. Der versierte Comic-Historiker mag jetzt mit erhobenem Zeigefinger einwerfen, dass es sich bei Northstar doch gar nicht um den ersten homosexuellen Comic-Helden handelt, sondern diese Ehre den Figuren Captain Metropolis, Hooded Justice und Silhouette in Alan Moores Watchmen von 1986 gebührt und Northstar mit seinem 1992er Outing ein paar Jahre zu spät dran war. Das ist grundsätzlich richtig, doch Northstar und sein Team Alpha Flight wurden bereits 1979 von Chris Claremont und John Byrne kreiert, um sich in Uncanny X-Men mit Professor Xaviers Mutanten anzulegen – damals jedoch als recht eindimensionale Prügelknaben.
Einen wirklichen Hintergrund für die kanadischen Helden lieferte John Byrne dann 1983 nach, als er beauftragt wurde, eine Alpha Flight-Serie zu entwerfen, und er fand schnell Gefallen an der Idee, ein schwules Teammitglied dabei zu haben. „Ich hatte kurz zuvor einen Artikel in Scientific American gelesen, in dem es um – für die damalige Zeit – radikal neue Theorien zur Entstehung von Homosexualität ging, und die Beweislage deutete stark darauf hin, dass sie von genetischen und nicht Umwelt-Faktoren abhing. Das brachte mich darauf, dass es an der Zeit für einen schwulen Superhelden war“, begründet Byrne seine Motivation. Aber der rigide Comics Code und der Marvel-Verlag selbst erlaubten es ihm nicht, einen schwulen Superhelden zu präsentieren und so verlegte sich der Künstler stattdessen auf zahlreiche Andeutungen – mit dem kuriosen Ergebnis, dass so gut wie jeder in der Comicindustrie und viele Fans wussten, dass Northstar schwul ist, aber es einfach nie offen in der Serie ausgesprochen wurde. In Anbetracht dessen und der Tatsache, dass Alan Moores oben erwähnte Figuren in Watchmen nur am Rand vorkamen, kann man jedenfalls guten Gewissens behaupten, das John Byrne den ersten schwulen Superhelden in die Welt gesetzt hat.
Byrnes Uncanny X-Men-Kollaborator Chris Claremont wurde 1981 übrigens mit ähnlichem verlagsinternen Widerstand konfrontiert, als er mit den Mutanten-Damen Mystique und Destiny zwei Antagonistinnen erdachte, die nicht nur ein lesbisches Liebespaar sein sollten, sondern auch Nightcrawlers biologische Eltern – mit der Gestaltwandlerin Mystique in der Vaterrolle. Den zuständigen Redakteuren schlackerten bei dieser damals recht unorthodoxen Idee wohl gehörig die Ohren und sie wurde offiziell wieder zu den Akten gelegt. Aber dennoch gab es auch hier über die Jahre hinweg zahlreiche Andeutungen, dass die beiden Mutantinnen mehr sind als nur gute Freundinnen, bis die Gerüchte satte 20 Jahre später endlich in der Miniserie X-Men Forever bestätigt wurden – und so richtig interessiert hat es dann eigentlich niemanden. Was aber wohl weniger der allgemein gewachsenen Toleranz zu verdanken war, sondern eher der Tatsache, dass es sich bei den beiden weder um Heldinnen, noch um Figuren aus der ersten Liga des Marvel-Figurenfundus handelt.
Homosexualität blieb mit der Ausnahme von Northstar auch in den 1990er Jahren nur wenigen Nebenfiguren in Marvels Superheldencomics vorbehalten, wie zum Beispiel Hector, einem Mitglied der Geheimorganisation Pantheon, in Peter Davids Incredible Hulk. Beim Konkurrenten DC sah es ähnlich aus: Es gab die, wiederum von John Byrne geschaffene, homosexuelle Polizistin Maggie Sawyer in den Superman-Comics; der reformierte Flash-Gegner Piper outete sich in Flash 53; der eher obskure australische Held Tasmanian Devil verriet in einem Nebensatz in Justice League Quarterly 8, dass er schwul sei; und in Supergirl flirtete die lesbische Stand Up-Komikerin Andy Jones mit der Titelheldin. In Neil Gaimans Sandman-Comics, die erst bei DC und dann beim an ältere Leser gerichteten Sublabel Vertigo veröffentlicht wurden, gab es außerdem das lesbische Paar Hazel und Foxglove. Ebenfalls bei Vertigo erschien 1993 die Miniserie Enigma von Peter Milligan und Duncan Fegredo, in der unter anderem Homosexualität thematisiert wurde. Ein schwuler Held vom Format eines Superman oder eine lesbische Heldin mit Witchblade-Appeal ließ auf sich warten.
Skandalöse Küsse
Aber dann trat zur Jahrtausendwende Warren Ellis auf den Plan: In seiner Hardcore-Superheldenserie The Authority, die bei Wildstorm/DC erschien, präsentierte der britische Autor den Lesern nicht nur einen schwulen Helden an vorderster Front, sondern gleich ein Paar: Apollo und Midnighter, die in gewisser Weise Variationen der Heldenikonen Superman und Batman sind. Die Beziehung der beiden Figuren, die Ellis ursprünglich für die Serie Stormwatch geschaffen hatte, wurde in den ersten Ausgaben nur angedeutet und schließlich in The Authority 8 bestätigt. „Anfangs ging Warren mit dem Thema sehr subtil um und das war wahrscheinlich am klügsten, angesichts der Tatsache, dass es zum damaligen Zeitpunkt noch sehr ungewöhnlich war“, erklärt Mark Millar, der die Serie von Ellis übernahm und die Verkaufszahlen noch einmal ordentlich steigerte – mit teilweise recht kontroversen Geschichten, wie der angedeuteten Vergewaltigung eines übel zusammengeschlagenen Apollo durch den Schurken Commander, der sich dafür später dem rachsüchtigen Midnighter samt Presslufthammer in der Hand gegenüber sah… Autsch! Millars skandalträchtiger Stil kam zwar bei den Fans fantastisch an, bereitete dem damaligen DC-Herausgeber Paul Levitz aber einige Kopfschmerzen und führte dazu, dass im Rahmen verlagsinterner Zensurmaßnahmen immer wieder bereits fertige Seiten neu gezeichnet werden mussten. Dazu gehörte neben vielen Gewaltszenen auch ein an sich harmloser Kuss zwischen dem Heldenpaar, den man bei DC als zu stark in Szene gesetzt empfand. Zuvor hatte man andere Kusspanels der beiden aber bereits durch gewunken und somit konnte The Authority die Trophäe für den wohl ersten homosexuellen Kuss unter Superhelden mit nach Hause nehmen.
Ebenfalls bei Wildstorm bzw. dem Sublabel America’s Best Comics (ABC) erschien von 1999 bis 2002 Alan Moores Comic-Anthologie Tomorrow Stories, für die der britische Autor zusammen mit seiner zukünftigen Ehefrau, der Zeichnerin Melinda Gebbie, die flamboyante lesbische Heldin Cobweb schuf. Ab 2000 erschien bei ABC zudem Moores Superheldenpolizei-Serie Top 10, unter deren Hauptfiguren sich die lesbische Polizeibeamtin Jackie Kowalski alias Jack Phantom und ihr schwuler Vorgesetzter Steve Traynor befanden.
Nachdem Mark Millar von Wildstorm zu Marvel gewechselt war, um Ultimate X-Men zu schreiben, schien es, dass er auch hier zumindest einen schwulen Helden etablieren wollte. Immer wieder streute der Autor Hinweise darauf, dass sich Colossus zu seinem Teamkollegen Wolverine hingezogen fühlte, und freute sich wahrscheinlich diebisch über die aufgeregten Diskussionen in diversen Internetforen. Letztendlich beließ es der schottische Autor aber bei diesen Hinweisen, die dann später von Brian K. Vaughan aufgenommen wurden. Dieser verkuppelte Colossus schließlich mit der ultimativen Version von Northstar. Zuvor hatte Vaughan in seiner viel gelobten Marvel-Serie Runaways übrigens mit Karolina Dean alias Lucy in the Sky schon eine lesbische Jungheldin etabliert.
Aufsehen auch außerhalb der Comicszene erregte eine Geschichte von Judd Winick in Green Lantern 154-155, in der Terry Berg, der Assistent von Green Lanterns Alter Ego Kyle Rayner, von Schwulenhassern in ein Koma geprügelt wird und der aufgebrachte Titelheld Jagd auf die Täter macht. Terrys Coming Out war zuvor ebenfalls in einem Heft thematisiert worden und hatte bei Fans zu gemischten Reaktionen geführt. Neben Lob gab es auch Leser, die ankündigten, die Serie bei Fortführung des Themas nicht mehr zu kaufen, und außerdem Vorwürfe, die Comics seien Teil einer „schwulen Agenda“. Die Mehrheit der Leser hatte aber offensichtlich nichts einzuwenden – im Gegenteil: Die Verkaufszahlen von Green Lantern stiegen zeitweilig sogar.
Auch Marvel bekam eine Menge Schlagzeilen, als man Ende 2002 ankündigte, dass man den klassischen Westernhelden Rawhide Kid in einer neuen Miniserie für das an erwachsene Leser gerichtete MAX-Label als schwul darstellen würde. Der Titel Rawhide Kid: Slap Leather und der Umstand, dass das Skript von Ron Zimmerman geschrieben wurde, einem der Autoren von Radio-Rüpel Howard Stern, verrieten von Anfang an, dass man hier die augenzwinkernde Schiene fahren wollte. Obwohl sich seit vielen Jahrzehnten niemand für Comic-Cowboys interessiert hatte, schaffte es die Meldung bis in die amerikanischen Fernsehnachrichten und wurde teils heftig debattiert. Höhepunkt war eine bizarre Diskussion in der CNN-Sendung Crossfire, in der der medienerprobte Marvel-Guru Stan Lee den Männer liebenden Revolverhelden vor der Gift und Galle spuckenden Vertreterin der „Traditional Values Coalition“ verteidigen musste, die in bester Helen-Lovejoy-Manier darauf bestand, dass diese Comics auf Kinder abzielen würden und Teil der „homosexuellen Invasion“ wären. Der PR-Stunt war also gelungen und der Name Rawhide Kid in aller Munde. Die Comic-Geschichte selbst entpuppte sich letztendlich als vollkommen harmlose Parodie, die mit schwulen Stereotypen und Westernklischees spielte und von Zeichnerveteran John Severin ganz im Stil der alten Westerncomics der 1950er illustriert war.
Das Interessanteste an der ganzen Kontroverse ist wohl, dass man bei Marvel im Nachhinein anscheinend Angst vor der eigenen Courage bekam, denn in der 2006 erschienenen Neuausgabe des Official Handbook Of The Marvel Universe wurde Rawhide Kid wieder als heterosexueller Cowboy beschrieben, der „für eine Weile eine exzentrische Rolle angenommen hatte, offensichtlich um andere zu verwirren“. Auf jeden Fall verwirrt waren nun die Leser. Nachdem sich die Verkäufe von Slap Leather in Grenzen gehalten hatten, war man bei Marvel offenbar der Ansicht, dass die Kontroverse dem Verlag eher geschadet hatte und versuchte sich in Schadensbegrenzung. Die Furcht vor weiteren Anschuldigungen, man würde unschuldige amerikanische Kinder zur Homosexualität verführen, ging sogar soweit, dass Marvel-Chefredakteur Joe Quesada auf dem Wizard World Con in Chicago verkündete, dass fortan keine Serie mit einem homosexuellen Helden als Hauptfigur ohne Warnhinweis auf dem Cover erscheinen würde. Quesada selbst bezeichnete diese neue Regelung als „lächerlich“, ein klarer Hinweis, dass es Druck aus der Unternehmensführung des mittlerweile an der Börse erfolgreichen Verlags gab. Nach Kritik von Menschenrechtsgruppen ruderte man aber schnell wieder zurück und ließ einen Firmensprecher verkünden, dass es eine solche Regelung nie gegeben hätte.
Marvel Team Up-Autor Robert Kirkman, der sich nach Freedom Rings brutalem Ableben Anschuldigungen der Homophobie ausgesetzt sah, verteidigte sich damit, dass er die Figur von Anfang an als einen unerfahrenen Helden geplant hatte, der sterben würde, und das Ganze nichts mit dessen Homosexualität zu tun hatte. Für die Enttäuschung mancher Leser zeigte er aber durchaus Verständnis: „Ehrlich gesagt, angesichts der geringen Anzahl von Schwulen in Comics und ihrer bisher meist unglücklichen Darstellung […] verstehe ich die Reaktion auf den Tod von Freedom Ring, unabhängig von meinen Beweggründen. Wenn ich die Geschichte noch einmal schreiben würde, würde ich ihn nicht umbringen. […] Ich habe 20 Prozent von Marvels schwulen Figuren ausgelöscht, indem ich nur diese eine Figur habe sterben lassen. Darüber war ich mir nicht im Klaren, während ich die Geschichte schrieb.“
Auch bei DC gab es mittlerweile eine kleine Zahl homosexueller Figuren, die regelmäßig in diversen Comics auftauchten: Neben weiteren Auftritten von Piper, Maggie Sawyer nebst Freundin Toby Raines und dem oben erwähnten Terry Berg in Green Lantern gab es in Devin Graysons Nightwing den schwulen Polizisten Gannon Malloy, in Ed Brubakers Catwoman bekam Selina Kyle mit der quirligen Holly Robinson einen lesbischen Sidekick und in The Outsiders bahnte sich eine Beziehung zwischen den Heldinnen Thunder und Grace an.
Was Marvel mit Rawhide Kid erlebt hatte, widerfuhr dem Konkurrenzverlag 2006 auf fast identische Weise mit Batwoman. Die neue Version der Heldin, die einst in den 1950ern und 1960ern in den Batman-Comics aufgetaucht war, sollte nach Vorgabe des Verlags Frauen lieben – und damit zur neuerdings verstärkt angestrebten Vielfältigkeit der Bewohner des DC-Universums beitragen. Nachdem die Figur und ihre Sexualität nur kurz in einem New-York-Times-Artikel erwähnt worden war, gab es ein gewaltiges Medienecho – zu gewaltig offenbar für DCs Chefetage. Angesichts unzähliger Meldungen wie „Batwoman hero returns as a lesbian“ (BBC News), „Batwoman to come out as lesbian“ (Foxnews) und „Batwoman’s other secret identity turns heads“ (CNN) bemerkte Chefredakteur Dan DiDio: „Es ist schon ein bisschen verrückt. Wir hatten vermutet, dass dadurch etwas Aufmerksamkeit erregt würde, aber wir sind überrascht, dass es so viel wurde.“
Batwoman hatte ihr Debüt im Folgenden zwar wie geplant in der Serie 52, aber ihre angekündigte Soloserie, die von Devin Grayson geschrieben werden sollte, wurde auf Eis gelegt. Erst über ein Jahr später, als sich der Medienrummel gelegt hatte, traute man sich, eine Batwoman-Serie bei Greg Rucka und J.H.Williams in Auftrag zu geben. Doch dann wurde auch dieses Projekt – trotz vier bereits komplettierter Hefte – auf unbestimmte Zukunft verschoben, was laut Rich Johnstons Kolumne Lying in the Gutters mit dem sich nähernden Filmstart von The Dark Knight zu tun hatte. Bei DCs Mutterkonzern Warner Bros schien man durch ein erneutes Aufbranden der Lesbische-Heldin-Kontroverse wohl Umsatzeinbußen zu befürchten.
Dass es ungefähr zur selben Zeit, als die neue Batwoman von sich reden machte, in Catwoman bereits eine lesbische Titelheldin gab (Holly Robinson, die das Kostüm der schwangeren Selina Kyle übernommen hatte), war der aufgeregten Presse dabei übrigens völlig entgangen. Eine weitere lesbische Heldin, deren Sexualität eher innerhalb der Comicszene diskutiert wurde, war Renee Montoya. Die Ex-Polizistin, die schon seit Jahren zu den Nebenfiguren der Batman-Serien gehörte, war bereits in der Serie Gotham Central vom Schurken Two-Face (und damit sozusagen gleichzeitig von Autor Greg Rucka) geoutet worden und übernahm in 52 den Mantel des Superhelden The Question von ihrem an Krebs verstorbenen Vorgänger. Als neue Question war Renee Montoya dann Hauptfigur der Miniserie Crime Bible: Five Lessons of Blood, in der auch Batwoman auftauchte. Beide Heldinnen, die offenbar eine gemeinsame Vergangenheit haben, treten aktuell außerdem in einer weiteren Miniserie, Final Crisis: Revelations, auf. In Manhunter überraschte Schreiber Marc Andreyko die Leser derweil damit, dass der neue Liebhaber einer schwulen Nebenfigur der bis dato „ungeoutete“ ehemalige JLA-Held Obsidian war.
„Warum muss es Homosexualität in Comics geben?“, so die Frage eines Fans auf John Byrnes Messageboard. Die Antwort des streitbaren Künstlers folgte prompt: „Es muss Homosexuelle in Comics geben, weil es Homosexuelle im wahren Leben gibt. Das ist alles. […] Die Bevölkerung der fiktionalen Welt sollte die der realen Welt repräsentieren.“ Als der Fan seine Frage dann umformulierte in „Wie viele schwule Superhelden brauchen wir?“, lautete Byrnes schlagfertige Antwort: „Zwischen sechs und zehn Prozent.“ Doch wie Leserproteste und hitzige Mediendebatten beweisen, teilen einige Leute, gerade im stark puritanisch geprägten Amerika, eher die Sicht von Comicautor Chuck Dixon: „Ich erwarte nicht, dass ich meine Kinder vor dem Thema Homosexualität abschirmen kann. […] Aber ich will nicht, dass sie darüber in Comics lesen.“ Im Gegenzug wiesen mehrere Blogger darauf hin, dass Dixon aber offensichtlich kein Problem damit habe, wenn Kinder in seinen Comics mit Abtreibung, Gewalt und Heterosexualität konfrontiert werden. Die Argumentation, dass Comics letztendlich ein Medium für Kinder sind und dass Homosexualität ein für Kinder nicht geeignetes Thema ist, wird in den USA oft und gerne angeführt. Hier wundert es jedoch, dass ein Comicprofi wie Dixon sich darauf versteigt, der wissen müsste, dass Comics heutzutage sowieso größtenteils von Erwachsenen und älteren Jugendlichen gelesen werden. Und für den Fall, dass doch mal ein Kind nach der Comiclektüre seine Eltern fragt, was denn „homosexuell“ bedeute, meint Lynn Johnston, die (in Teil 1 des Artikels) bereits erwähnte Zeichnerin des Comic Strips For Better or Worse: „Ich glaube, sobald ein Kind alt genug ist, diese Frage zu formulieren, ist es alt genug für die Antwort.“ Bei der teils aggressiven Diskussion schwingt auch offenbar noch ordentlich der alte Aberglaube mit, dass schon allein die Darstellung von homosexuellen Figuren und Themen in Unterhaltungsmedien die Rezipienten, vor allem Kinder, homosexuell „machen“ könnte.
Die Ursprünge dieser Vorbehalte gegenüber Comics kann man bis in die späten 1940er zurückverfolgen, als in den USA (wie wenig später auch in Deutschland) eine Hexenjagd auf die bunten Hefte begann. Vertreter von Kirche und Polizei, Pädagogen und besorgte Eltern waren zu der Überzeugung gekommen, dass Comics, die damals von 90 Prozent der amerikanischen Jugend gelesen wurden, zu Kriminalität, Asozialität und Perversion führten. Ihren vorläufigen Höhepunkt fand diese Bewegung 1948 in Binghamton, New York, als Grundschüler unter den wachsamen Augen ihrer Eltern und Lehrer 2000 Comics öffentlich verbrennen mussten. Wissenschaftliche Unterstützung bekamen die militanten Moralapostel 1953 durch den Psychologen Fredric Wertham, der in seinem Bestseller Seduction of the Innocent all das bestätigte, was man zuvor schon befürchtet hatte: Comics führten zu Gewalt, Kriminalität, Rassenhass, Vergewaltigung, Faschismus – und Homosexualität, in den Augen des Psycho-Doktors eine Geisteskrankheit. Batman und Robin lebten laut Wertham den Wunschtraum eines jeden schwulen Paars und indoktrinierten damit junge Leser, Wonder Woman sah er hingegen als eine S/M-propagierende, Männer hassende Lesbe. (Interessanterweise wurde die Comic-Amazone ausgerechnet von einem Kollegen Werthams, nämlich Dr. William Moulton Marston, der auch eine frühe Version des Lügendetektors entwickelt hatte, kreiert.)
In der höchst paranoiden und von Sexualität besessenen Gesellschaft der 1950er fand der Psychologe auf Kreuzzug natürlich massenhaft begeisterte Abnehmer seiner Thesen. Der Umstand, dass einige Comics auch noch wirklich Angriffsfläche für diese kruden Theorien boten, machte es nicht leichter für die Verlage sich zu verteidigen: Idealisierte männliche Heldentypen in hautenger Kleidung, die gesellschaftliche Außenseiter waren, aus verschiedenen Gründen keine heterosexuelle Beziehung führten und einen jugendlichen Sidekick im Schlepptau hatten (Batman und Robin starteten den Sidekicktrend; es folgten Green Arrow und Speedy sowie Captain America und Bucky) – mit etwas Fantasie konnte man da durchaus homoerotische Bezüge reindeuten. Aber wie Michael Bronski in seinem Artikel „Comic Relief“ anmerkt, kann man eine derartige, nicht-sexuelle Männer-Romantik überall in den mythischen Geschichten und großen Abenteuererzählungen der westlichen Kultur finden, von den Legenden um König Artur und die Ritter der Tafelrunde über Der Letzte Mohikaner, Moby Dick und Huckleberry Finn bis zu den Lethal Weapon-Filmen.
Werthams Theorien fanden damals jedenfalls großen Zuspruch in der amerikanischen Bevölkerung und Politik, und die Comicverlage schlitterten unversehens in die Rolle eines Sündenbocks für gesellschaftliche Missstände. Die Verkäufe stagnierten, und man sah sich gezwungen, die meisten Serien aus den am stärksten kritisierten Genres Horror und Mystery (Superhelden wurden damals gemeinhin als „Mystery-Men“ bezeichnet) einzustellen und stattdessen das Hauptaugenmerk auf harmlos-humorvolle Teenagercomics wie Archie und Patsy Walker, lustige Tier-Strips und Western zu legen. Schließlich gründeten die Verlage als Reaktion auf das aufgeheizte Klima mit der Comics Code Authority eine eigene Zensurstelle, die fortan Comics auf anstößige Inhalte prüfte. Im Gegensatz zu Werthams Meinung erlaubte man dort Superheldencomics, solange deren Macher sich an die strikten Auflagen des Comics Code hielten, die alle moralisch anstößigen Themen untersagten – worunter damals auch Homosexualität fiel. (Im Laufe der Jahre wurde der Code immer wieder überarbeitet und abgeschwächt, bis dann 1989 sogar die Weisung hinzugefügt wurde, Minderheiten wie Homosexuelle „nicht stereotyp darzustellen“.) Um die von Wertham explizit attackierten Helden Batman und Robin aus der Schusslinie des homophoben Lynchmobs zu bringen, erdachte man bei DC damals außerdem flugs die Heldinnen Batwoman und Batgirl als passende heterosexuelle Gegenstücke. Dass nun ausgerechnet Batwoman als lesbische Superheldin zurückkehrt, wirkt somit fast wie eine späte Genugtuung der Comicmacher.
Während außerhalb der Comicszene also das Argument „Comics sind für Kinder und Homosexualität ist für solche ein ungeeignetes Thema“ gerne angeführt wird, geht es vielen Lesern von Superheldencomics, die dem Kindesalter längst entwachsen sind, aber offenbar eher um ein persönliches Unwohlsein beim Thema Homosexualität. Jedenfalls kann man dies aus zahlreichen Forenbeiträgen schließen. Bei gleichgeschlechtlichen Frauenbeziehungen zeigen sich die meisten Comicfans dann schon weit toleranter – aber das dürfte keine große Überraschung sein. Weithin bekannter Fakt ist jedenfalls, dass Superheldencomics hauptsächlich von heterosexuellen Männern zwischen 18 und 40 Jahren gelesen werden. Dass aber auch eine signifikante schwule Leserschaft existiert, wurde spätestens durch die neuen Kommunikationsmöglichkeiten des Internets in den letzten Jahren verstärkt klar. Herauszufinden, wie viele unter den (laut einer Erhebung von 2007) mehr als 90% männlichen Lesern von Superheldencomics denn nun homosexuell sind, ist natürlich ein schier unmögliches Unterfangen – außer vielleicht, man heißt Kinsey.
Aber dass es eine nicht ganz unbedeutende Minderheit schwuler Superheldencomic-Leser gibt, beweisen zahlreiche Onlineforen, mitgliederstarke Onlinecommunitys wie Gayleague.com, die sich hauptsächlich homosexuellen Figuren in Superheldencomics widmen, sowie gut besuchte Podiumsdiskussionen im Rahmen der weltweit größten Comicmesse, des San Diego Comic Con. 2008 gab es dort zum Thema allein vier Podiumsdiskussionen: „Gays in Comics“, „LGBT Portrayals in Comics“, „Emerging LGBT Voices“ und “50 Years of Gay Legion of Super-Heroes Fandom“. (LGBT steht für „lesbian, gay, bisexual & transgender“.) Und trotz der allgemein gehaltenen Titel drehten sich auch die ersten drei genannten Veranstaltungen zu großen Teilen um Superheldencomics – in den USA immer noch das auflagenstärkste und populärste Genre. Worum es den meisten der schwulen Lesern geht, betont ein Comicfan in einer Diskussion auf Comicsworthreading.com: „Homosexuelle wollen doch keine expliziten Sexszenen in ihren Superheldencomics, sie wollen nur eine ausgewogene Darstellung von Menschen in Geschichten, mit denen sie sich identifizieren können. Etwas, das für Heterosexuelle selbstverständlich ist.“
Dass auch schon vor Jahrzehnten einige Leser auf der Suche nach homosexuellen Identifikationsfiguren waren, beweist zum Beispiel die lang anhaltende Fan-Diskussion über die Sexualität von Element Lad aus Superboy and The Legion of Superheroes in den 1970ern. Nachdem damals in einem Fanzine sogar zu lesen war, dass die Figur auch nach Ansicht des damaligen Autors Jim Shooter durchaus schwul sein könnte und die zuständigen Redakteure darauf abzielende Fragen nie verneinten, akzeptierten die Fans es als Fakt. Bis sich Paul Levitz Anfang der 1980er dann genötigt sah, dem ganzen ein Ende zu setzen und Element Lad zur Enttäuschung vieler Leser eine Freundin auf den Leib zu schreiben. Element Lads offizielle „Heterosexualisierung“ kommentierte Keith Giffen, der in den 1980ern als Zeichner zusammen mit Levitz an den Legion–Geschichten arbeitete, damals so: „Es sieht aus, als ob er momentan ziemlich heterosexuell ist, obwohl mich das enttäuscht. Gerade wegen des Umstands, dass sich die Leute fragten ‚Ist er schwul, ist er nicht schwul?’ – gerade weil es so unauffällig und natürlich geschah, ohne ein Schild hochzuhalten, auf dem steht ‚Schwuler Held, schwuler Held, genau hier!’. Wenn Leute Homosexuelle in Comics natürlich darstellen würden, dann gäbe es nicht jedes Mal das große Bruhaha, wenn jemand eine Figur schreibt, die auch nur im entferntesten Sinne schwul sein könnte. Etwas, das ein natürlicher Teil einer Figur sein sollte, wird so zur Kontroverse.“
Eine ähnlich lang anhaltende Spekulation unter Lesern gab es viele Jahre später über die beiden männlichen X-Force-Mitglieder Rictor und Shatterstar, deren besondere Art der Beziehung von verschiedenen Autoren immer wieder betont wurde. Im Fall von Green Arrow II alias Connor Hawke, der nach Meinung einiger Leser auch als homosexuell gelesen werden konnte, gab es wie schon bei Element Lad extra den ausdrücklichen Gegenbeweis innerhalb eines Comics, in dem Connor klar stellt, dass er auf Frauen steht.
Ein homosexueller Held ist auf jeden Fall auch heute noch ein ziemliches Reizthema, das in Internetforen schnell zu wüsten Verbal-Keilereien führen kann. Ganz besonders, wenn es darum geht, dass ein bereits etablierter Held nachträglich das Attribut „schwul“ verpasst bekommt. Da rotieren dann oft auch Comicmacher wie Chuck Dixon, der sich im Fall von Rawhide Kid online vehement über die Behandlung seines Kindheitshelden beschwerte und das Ganze als billigen Marketinggag abtat. Und bei letzterem muss man Dixon wohl teilweise Recht geben: Das Konzept und die Werbung für Slap Leather basierten einzig und allein auf dem Aspekt, dass man es mit einem schwulen Cowboy zu tun hatte. Homosexualität also als eine Art von Freak-Faktor zwecks Verkaufsförderung. Hinzu kam im Fall von Rawhide Kid die Tatsache, dass es sich um einen „Retcon“ handelte, eine nachträgliche Veränderung einer Figur – und auf so etwas reagieren Kontinuität liebende Comicfans bekanntlich äußerst allergisch.
Auch im Fall von Renee Montoya und Obsidian gab es Vorwürfe, die Autoren würden einfach die Sexualität einer etablierten Figur nach Belieben umschreiben. „Es war nicht meine Entscheidung, sie homosexuell zu machen – die Figur war es einfach für mich“, erklärte Greg Rucka CBR News seine Gründe, Renee Montoya zu „outen“. „Es war für mich vom ersten Moment an klar. Andere Leute schrieben sie als hetero, und jedes Mal, wenn ich das las, empfand ich es als Tarnung.“ Und Marc Andreyko, der für seine Serie Manhunter einen schwulen Superhelden als Liebhaber für eine Nebenfigur, den Anwalt Damon Matthews, eingeplant hatte, betonte in einem Interview mit dem Onlinemagazin Pulse, dass er keine Figur als schwul schreiben wolle, wenn es sich nicht echt und nachvollziehbar anfühle. Obsidian wählte er aus, weil dieser in vorangegangenen Geschichten nie Glück mit Frauen gehabt hatte und Autor Gerard Jones bereits Jahre zuvor in Justice League America Zweifel bezüglich dessen Heterosexualität gestreut hatte. „Wenn man sich seine Geschichte anschaut, scheint Homosexualität durchaus logisch. Würde jetzt aber jemand Wolverine als schwul schreiben, wäre das eine falsche Charakterisierung und einfach schlechtes Erzählen“, so Andreyko. „Die Redakteure und ich waren uns einig, dass die Homosexualität keine ‚große Sache’ für die Figur sein sollte. […] Wir waren der Meinung, es wäre nett und realistisch, einen ziemlich normalen Typen zu haben, der einfach schwul ist und kein Problem damit hat.“
Diesen Vorsatz schienen auch Ed Brubaker und Allan Heinberg gefasst zu haben, die für ihre Darstellung von Holly Robinson und ihrer Freundin Karon in Catwoman bzw. von Wiccan und Hulkling in Young Avengers beide viel Lob von allen Seiten bekamen. Heinberg, dessen Young Avengers sich durchaus auch an jugendliche Leser richtet, bekam sogar Fanpost von Eltern, die es begrüßten, wie die Sexualität der jungen Helden gehandhabt wurde. „Es ist eine viel größere Sorge für diese Jugendlichen, ihre Eltern könnten entdecken, dass sie Superhelden sind, als dass sie herausfinden, dass sie schwul sind“, erklärt Heinberg seine Herangehensweise. Dies passt gut zu dem Wunsch, den ein Comicleser in einer Onlinediskussion über schwule Superhelden formulierte: „Zeigt, dass sie wie alle anderen sind. Stellt sie wie Nightwing dar. Stellt sie wie Flash dar. Stellt sie wie Kyle Rayner [Green Lantern] dar. Mit dem einzigen Unterschied, dass sie sich für Männer interessieren.“ Und ein anderer Fan fügte hinzu: „Keinen schwulen Superhelden, sondern einen Superhelden, der zufällig schwul ist.“
Auf eine ausgewogene und realistische Darstellung homosexueller Figuren, die sich weder auf stereotype Weise hauptsächlich über ihre sexuelle Orientierung definieren, noch für Schockeffekte und Betroffenheitsdramen missbraucht werden, würden sich wahrscheinlich auch viele heterosexuelle Leser einlassen. Denn wühlt man sich durch die zahlreichen jüngeren Forendiskussionen zum Thema, dann fällt auf, dass dort nur eine lautstarke Minderheit strikt ungewillt ist, homosexuelle Comic-Helden an sich zu akzeptieren. Die Mehrheit bemängelt weniger die Existenz derartiger Figuren, sondern eher Sensationshascherei à la Rawhide Kid und eindimensionale Klischee-Helden und Geschichten. Wie weit dies jetzt für die Gesamtheit der Leser spricht, bleibt natürlich unklar, aber es ist ein Anhaltspunkt für die Verlage, worauf in Zukunft zu achten ist. Bei DC jedenfalls betont man seit einer Weile, dass man in den verlagseigenen Comics allgemein eine größere Diversität der Figuren anstrebt. Und wie Redakteur Bob Schreck auf dem San Diego Comic Con 2008 verkündete, gibt es sogar die Anweisung aus der Chefetage, in diesem Rahmen auch das Thema Homosexualität „geschmackvoll und einfühlsam“ zu adressieren.
Es wird interessant sein zu sehen, ob die Verantwortlichen aus der teils ziemlich holprigen Handhabung homosexueller Protagonisten in der Vergangenheit gelernt haben und zukünftig Autoren an das Thema ranlassen, die in der Lage sind, schwule Mutanten und lesbische Verbrecherschrecks überzeugend zu schreiben und nicht in die üblichen Klischeefallen tapsen. Ein paar viel versprechende Schritte sind in dieser Hinsicht ja bereits gemacht worden. Den passenden Ton hat Warren Ellis jedenfalls schon vorgegeben. Auf die Frage, ob Apollo und Midnighter denn nun wirklich schwul seien, reagierte er nämlich ganz lapidar mit: „Ja, es stimmt. Apollo und Midnighter sind ein Paar. Na und?“
Bilder © Marvel, DC
Dieser zweiteilige Artikel wurde mit dem Sonderpreis des Felix-Rexhausen-Preises 2009 (Medienpreis des Bundes Lesbischer und Schwuler JournalistInnen BLSJ) ausgezeichnet.
Begründung der Jury:
Außer Ralph Königs Knollennasen und Batman-und-Robin-Homo-Erotik gibt es noch weitaus mehr Gleichgeschlechtliches im Genre der immer beliebter werdenden Bildergeschichten zu entdecken. Diese Erkenntnis hat die Jury Andreas Völlinger zu verdanken. In seinen beiden Online-Artikeln „Schwule Hasen und echte Mädels“ und „Voll schwule Superhelden“ liefert er eine detailreiche und – nach Kenntnis der Jury – die erste umfassende Bestandsaufnahme von „Homosexualität in Comics“. Kenntnisreich und akribisch listet Völlinger schwule und lesbische Charaktere auf, die in japanischen Mangas, Underground-Comics oder Klassikern, wie den Watchmen zu finden sind. Bemerkenswert und nicht ohne Überraschungen ist seine Beschreibung der Rezeptionsgeschichte: Wie gehen Leserinnen, Leser und Verlage mit den lesbischen und schwulen Geschichten und Figuren um?
Die beiden Artikel richten sich in erster Linie an ein Fachpublikum. Trotzdem ist die Jury von Völlingers detaillierter Ausarbeitung so beeindruckt, dass sie ihn mit dem Sonderpreis 2009 ehrt.
Andreas Völlingers Studie, hinter der die Begeisterung des Autors für sein Thema nicht zu überlesen ist, bietet eine hervorragende Referenzquelle mit enzyklopädischem Charakter, nicht zuletzt für Journalisten. Und genau das würde sich die Jury wünschen, dass Völlingers kleine Pionierarbeit einem breiteren Publikum zugänglich gemacht wird.