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Schwule Hasen und echte Mädels – Homosexualität in Comics Teil 1

 Update 03.08.2009:
Dieser zweiteilige Artikel hat den Sonderpreis des Felix-Rexhausen-Preises (Medienpreis des Bundes Lesbischer und Schwuler JournalistInnen (BLSJ)) 2009 gewonnen!

Wem zum Thema „Homosexualität in Comics“ nur Ralf Königs Knubbelnasen einfallen, wird staunen, was es noch alles gibt: Der folgende Artikel bietet im ersten Teil eine Übersicht über schwule und lesbische Figuren und Geschichten in Comic Strips, Mainstream- und Indiecomics – von den Anfängen in der Undergroundszene bis heute.
Auch dem in Deutschland noch recht jungen Phänomen der Boys-Love- und Yuri-Manga gehen wir auf den Grund und haben dazu zusätzlich Vertreter der Verlage Carlsen und EMA befragt.


Alpha Flight 106Man staunte bei Marvel Comics nicht schlecht, als im Jahr 1992 die Erstauflage der Nummer 106 von Alpha Flight, einer eher mittelmäßig laufenden Serie um ein kanadisches Superheldenteam, innerhalb einer Woche komplett über den Ladentisch ging. Der Grund war schnell ausgemacht: In besagtem Heft verkündet der Held Northstar nämlich seinem Gegner und der Leserschaft inmitten eines Kampfes: „I am gay.“ (Dass der Grund für die erhöhte Nachfrage nicht die überragende Qualität der Geschichte und Zeichnungen gewesen sein konnte, offenbart ein Blick in besagtes Heft …) Wie Autor Scott Lobdell später bemerkte, war man bei Marvel im ersten Moment ziemlich überrascht über das große Interesse an dieser Coming-Out-Story, die viel Beachtung in den Medien fand. „Es gab eine zweite Auflage, noch einmal 60.000 Exemplare, eine Woche nach der Erstveröffentlichung“, erinnert sich Lobdell. „Das waren insgesamt 120.000 Exemplare von einem Comic, von dem man damals sogar locker die siebenfache Menge hätte verkaufen können. Das Heft war überall ausverkauft und es gab internationale Berichterstattung. Wenn jemand bei Marvel geahnt hätte, dass man es mit einem solchen Phänomen zu tun hat, hätte man sicher im Voraus viel mehr Hefte gedruckt. Aber wir wussten es nicht, wir dachten es wäre für niemanden außer Alpha Flight-Fans interessant.“

Offenbar interessierte ein schwuler Comic-Held aber eine ganze Menge Leute. Er war schließlich ein ausgesprochenes Novum, vor allem im puritanisch geprägten Amerika, wo sich die meisten Comickünstler bei der Darstellung homosexueller Figuren bis dahin auf mehr oder minder explizite Andeutungen beschränkt hatten. (Mehr zum äußerst ergiebigen Thema „Homosexuelle Superhelden“ gibt es in Teil 2 dieses Artikels.)

Mehr oder weniger zaghafte Pioniere – Die Anfänge

Die ersten homosexuellen Comicfiguren waren laut David Applegates Artikel „Coming Out in the Comic Strips“ bereits in den 1930ern in Milton Caniffs TerryTerry and the Pirates and the Pirates zu finden. Mit dem Verbrecherboss Papa Pyzon und der französischen Offizierin Sanjak hatte Carniff die erste schwule bzw. lesbische Comicfigur geschaffen, was den damaligen Lesern aber größtenteils völlig entging. „Der Gedanke an jedwede Art sexueller Abweichung von der Norm kam den Menschen damals einfach nicht in den Sinn“, erklärte Caniff später in einem Interview im Comic Journal. Die diversen Andeutungen wurden einfach pinkertonüberlesen und der Künstler beließ es dabei. „Zu dieser Zeit hätte nur die Hälfte der Leserschaft das Wort ‚Lesbe’ verstanden und die andere Hälfte hätte daran Anstoß genommen.“ Auch 30 Jahre später hatte sich an dieser vorsichtigen Haltung nicht viel geändert: Unter den Figuren in der 2.Weltkrieg-Serie Sgt. Fury and his Howling Commandos gab es laut Autor Stan Lee auch einen schwulen britischen Offizier. „Wir machten daraus keine große Sache“, so Lee, was de facto dazu führte, dass so gut wie nichts darauf hinwies, dass die Figur schwul war – außer ihrem exzentrischen Benehmen und vielleicht dem Namen, mit dem sich Lee selbst übertroffen hatte: Percival „Pinky“ Pinkerton. Vielleicht sollte man angesichts dessen einfach dankbar sein, dass er es dabei beließ.

Eine offen homosexuelle Comicfigur wäre damals von der Comics Code Authority (CCA), dem 1954 gegründeten Selbstkontrollorgan der Comicverlage, auch gar nicht zugelassen worden. (Mehr zum Comics Code in Teil 2 des Artikels.) Keine Mitglieder der CCA – und damit von deren Regeln ausgenommen – waren aber diewimmenscomix in den 1970ern zahlreich aus dem Boden schießenden Kleinverlage. Und so konnte 1972 in der ersten Ausgabe der Anthologie Wimmen’s Comix mit „Sandy Comes Out“ von Trina Robbins die erste Comicgeschichte mit einer offen lesbischen Figur erscheinen. 1974 brachte Mary Wings dann mit Come Out Comix das erste Comic-Heft auf den Markt, das sich ausschließlich um lesbische Frauen drehte, zwei Jahre später folgte mit (dem hoffentlich ironisch betitelten) Gay Heartthrobs der erste an schwule Männer gerichtete Comic. Ab 1980 erschien unter dem schnörkellosen Titel Gay Comix (später in Gay Comics umbenannt – irgendwann war man die alternative x-Endung doch leid) die wohl wichtigste und erfolgsreichste Anthologiereihe für schwule und lesbische Comickünstler in den USA, die bis 1998 lief.

Aber auch die Leser vieler Tageszeitungen, die mit Underground-Comics nichts am Hut hatten, wurden 1976 mit einer homosexuellen Comicfigur konfrontiert: dem Studenten Andy Lippincott in Gary Trudeaus Mark Slackmeyerpopulärer Comicstrip-Reihe Doonesbury. Dutzende von Tageszeitungen in denen die Reihe erschien, weigerten sich damals die Strips, in denen das Thema Homosexualität behandelt wurde, abzudrucken. Viel Aufmerksamkeit wurde Doonesbury zuteil, als die Figur Andy 1990 mit Aids diagnostiziert wurde und Trudeau dessen Kampf mit der Krankheit thematisierte. Mit dem Radiomoderator Mark Slackmeyer und dem Politiker Chase Talbot bereicherte Trudeau seine Serie später noch um ein homosexuelles Paar.

In Deutschland machte sich derweil Ralf König mit schwulen Knubbelnasenfiguren und einem präzisen Blick auf Beziehungsgeflechte seit den späten 1980ern auch unter heterosexuellen Lesern eine Menge Freunde und landete spätestens 1994 mit der Verfilmung seines ersten Comic-Bestsellers Der Bewegte Mann endgültig im Mainstream. Mittlerweile sind bei den Verlagen Rowohlt, Männerschwarm und Carlsen mehr als zwei Dutzend König-Comicbände erschienen und erfreuen sich auch im europäischen Ausland großer Beliebtheit – wobei sichComing Out in For Better Or Worse König nunmehr nicht auf schwule Figuren beschränkt, sondern sich für Hempels Sofa erstmals einer heterosexuellen Protagonistin angenommen hat. Eine schwule Nebenfigur ist aber natürlich ebenfalls dabei. Auf der anderen Seite des großen Teichs war man auch Mitte der 1990er offensichtlich noch nicht so weit, homosexuelle Comicfiguren wirklich ins Herz zu schließen. Als die kanadische Zeichnerin Lynn Johnston, deren Strip For Better or Worse seit 1979 in vielen amerikanischen Zeitungen erscheinen, 1993 das Coming Out einer Figur zum Thema machte, gab es neben Lob auch zahlreiche Beschwerden bei den Zeitungsredaktionen, Abonnementskündigungen und Hassbriefe an die Künstlerin. Über 100 Zeitungen, vor allem in ländlichen Gegenden, druckten Ersatz-Strips oder verabschiedeten sich komplett von For Better or Worse.

Lesbische Terroristinnen und schwule Exorzisten – Die 90er bis heute

Besser sah es für Howard Cruse und seine Graphic Novel Stuck Rubber Baby (auf Deutsch als Am Stuck Ruber BabyRande des Himmels bei Carlsen erschienen) von 1995 aus – wohl nicht zuletzt, weil die meisten Leser wussten, was sie erwartete. Für seine in den Südstaaten zur Zeit der schwarzen Bürgerrechtsbewegung angesiedelten Geschichte, in der sich der weiße Hauptprotagonist mit seiner Homosexualität und dem ihm eingeimpften Rassismus auseinandersetzen muss, gab es einige Preise und Nominierungen sowie enthusiastisches Lob von illustren Kollegen wie Scott McCloud und Harvey Pekar. Noch mehr Aufmerksamkeit bekam aber fünf Jahre später Judd Winicks Pedro and Me, in dem der Künstler die autobiografische Geschichte seiner Freundschaft zu Pedro Zamora erzählt, mit dem er für die MTV-Serie Real Life in eine Fernseh-WG gezogen war. Winicks einfühlsame und selbstironische Auseinandersetzung mit der Homosexualität und HIV-Erkrankung seines Freundes brachte ihm neben einer Nominierung für den Eisner-Award auch die – für Comicmacher recht seltene – Ehre ein, dass sein Werk in die Lehrpläne zahlreicherTough Love amerikanischer Schulen aufgenommen wurde. Ebenfalls Lob für die Darstellung einer homosexuellen Figur bekam die von Jan van Meter geschriebene und von verschiedenen Künstlern gezeichnete Indie-Reihe Hopeless Savages, in der aus dem nicht alltäglichen Leben zweier ehemaliger Punkrockstars und ihrer Kinder, darunter ein schwuler Sohn, erzählt wird. Homosexuelle Figuren gehören außerdem zur Stammbesetzung des kanadischen Kult-Comics Scott Pilgrim und der lang laufenden und viel gepriesenen Serie Love & Rockets der Brüder Jaime und Gilbert Hernandez (Auf Deutsch erschienen bisher fünf Sammelbände bei Reprodukt). An jugendliche Leser richtet sich Abby Densons im minimalistisch-ansprechenden Indie-Stil gezeichneter Comic Tough Love: Highschool Confidental, in dem es um das problemreiche Coming Out eines Teenagers geht.

Illustration von Tom Bouden Im Comicland Belgien recht populär ist der Zeichner Tom Bouden, der sich durch einen sympathischen, an Herges Tim & Struppi erinnernden Linie Claire-Stil auszeichnet. Boudens Bandbreite reicht von der einfühlsam-humorvollen Coming-Out-Story eines schwulen Jugendlichen (Max & Sven) bis zu erotischen Geschichten (In Bed with David & Jonathan und Queerville, auf Englisch beim Bruno Gmünder Verlag erschien). Für seine modernisierte Comic-Fassung von Oscar Wildes The Importance of Being Earnest, in der die Rollen der beiden jungen Frauen mit Männern besetzt sind, bekam Boulden den renommierten Prix Saint-Michel in der Kategorie „Bester Belgischer Comic“. Ebenfalls mit einem angesehenen Preis bedacht wurde die Arbeit des Franzosen Fabrice Neaud, der seit 1994 ein gezeichnetes Tagebuch über sein Leben als homosexueller Künstler in einer französischen Kleinstadt führt. Bisher sind unter dem Titel Journal vier Bände mit insgesamt knapp 800 Seiten Comics erschienen unddevlin_waugh 1997 gab es dafür den in seiner Heimatstadt Angoulême verliehenen Alph’art. Neauds Landsmann Hugues Barthe folgt in seinen Alben Dans La Peau d’un Jeune Homo und der Fortsetzung Le Marais zwar dem Weg einer fiktiven Figur, aber hat sich für die Erlebnisse des jungen homosexuellen Hugo von seinen eigenen Erfahrungen und denen seiner Freunde inspirieren lassen. Mit dem ersten Band hat er dabei so etwas wie eine unterhaltsame Anleitung zu Selbstakzeptanz und Coming Out für junge Homosexuelle geschaffen. In eine völlig andere Kategorie fällt der unkonventionelle schwule Actionheld, mit dem die Briten John Smith und Sean Phillips die Comic-Landschaft bereits 1992 bereicherten: Devlin Waugh, ein muskelbepackter und humorvoller Exorzist, der von da an regelmäßig in den Reihen 2000AD und Judge Dredd auftrat und schnell zum Leserfavoriten wurde.

Hase und Steffen Das wohl drolligste schwule Comicpaar findet man hingegen seit einigen Jahren in der deutschen Comiclandschaft vor: Den namenlosen Hasen und seinen Karnickelfreund Steffen aus Naomi Fearns Zuckerfisch-Strip, der wöchentlich in der Stuttgarter Zeitung erscheint und auch in Form mehrerer Sammelbände beim Zwerchfell Verlag zu haben ist. Das knuddelige Duo läßt wahrscheinlich selbst noch den zynischsten Homophobiker dahinschmelzen. Ebenfalls in die humorige Richtung gehen die David-Comics, in denen der Kölner Zeichner Swen Marcel augenzwinkernd die Schwulenszene aufs Korn nimmt. Bisher sind vier Bände erschienen. Der Berliner Künstler tiló alias Thilo Krapp hat sich hingegen das Abenteuergenre für die Serie um sein schwules Protagonistenpaar Damian & Alexander ausgesucht. Der erste Band mit dem Titel „Der Grüne Jaguar“ wurde im Epsilon Verlag veröffentlicht.

Über die Jahre ist in den USA eine relativ großecavalcade homosexuelle Indie-Comicszene herangewachsen. Zahlreiche offen schwule und lesbische Künstler kreieren Comics, die hauptsächlich, aber nicht ausschließlich, auf homosexuelle Leser abzielen. Paradebeispiele sind Tim Fish mit seinen witzig-romantischen Cavalcade of Boys-Comics und der von ihm redaktionell betreuten Anthologie Young Bottoms in Love oder Diane DiMassa mit ihrem anarchistischen Hothead Paisan: Homicidal Lesbian Terrorist. Ebenso gibt es eine Reihe von Comic Strips, die speziell in schwulen und lesbischen Zeitungen und Magazinen oder online erscheinen, wie Curbside von Robert Kirby (der auch die Anthologie Boy Trouble herausgibt), Jane’s World von Paige Braddock, The Mostly Unfabulous Social Life of Ethan Green von Eric Orner, Chelsea Boys von Glen Hanson und Allan Neuwirth, Kyle’s Bed & Breakfast von Greg Fox, Adam & Andy von James Asal (erschien mehrere Jahre in deutscher Übersetzung bei Comicgate) und Allison Bechdels seit 1983 laufender Strip Dykes to Watch Out For – auf Deutsch in bisher sechs Sammelbänden beim Daphne-Verlag veröffentlicht. (Eine Linkliste zu allen Onlinestrips folgt am Ende des Artikels.)

Allison Bechdel machte sich in den letzten Jahren auch international mit dem autobiografischen Comic Fun Home (auf Deutsch bei Kiepenheuer & Witsch) einen Namen, in der sie sich mit der versteckten Homosexualität ihres Vaters auseinander setzt. Das likewise Time Magazin nannte die Comicerzählung „das beste Buch des Jahres“ und den Eisner Award gab es obendrein auch noch. Auch Ariel Schrag nutzte ihr eigenes Leben als Vorlage für die vier Comicbücher Awkward, Definition, Potential und Likewise, in denen sie auf witzige und entwaffnend ehrliche Art ihre Erlebnisse in der neunten bis zwölften Klasse schildert – inklusive der Erkenntnis, dass sie Frauen liebt, ihrer ersten Beziehung mit einem Mädchen und dem ersten Sex. Das Besondere an diesen Comic-Chroniken ist, dass sie nicht rückblickend, sondern während der Schulzeit entstanden, jeweils in den Sommerferien nach Abschluss des Schuljahrs. Für Potential, den dritten Band, gab es eine Eisner-Award-Nominierung und eine Produktionsfirma sicherte sich die Filmrechte. Eher fantastisch und stark manga-inspiriert kommt dagegen Lea Hernandez’ Clockwork Angels daher, ein Mix aus viktorianischer Steampunk-Science Fiction und übernatürlicher Dämonenfantasy mit dem weiblichen Liebespaar Temperance und Amelia in der Hauptrolle. Laut Autor Warren Ellis, der das Vorwort schrieb, ein Comic für „echte Mädels“.

Männerliebe auf Japanisch – für Frauen

In Japan haben Comics mit homoerotischem Inhalt eine Tradition, die bis in die frühen 1970er zurückgeht. Mit der Kurzgeschichte Juichigatsu no Gymnasium (November Gymnasium) der Zeichnerin Moto Hagio erschien 1971 der erste Manga, der die Liebe zwischen zwei Jungen thematisierte. Mit Thomas no Shinzou (The Heart of Thomas) widmete sie dem Thema dannRin! drei Jahre später einen kompletten Mangaband. Da derartige Geschichten bei jungen japanischen Frauen äußerst gut ankamen, folgten weitere Manga und mehrere Manga-Magazine wie z.B. June, die sich dem Thema Männerliebe widmeten. Es entwickelte sich ein ganzes Genre – oder sogar zwei? In westlichen Ländern unterscheidet man nämlich oft zwischen Shonen-Ai (auch „Shounen-Ai“ geschrieben) und Yaoi. Bei ersterem stehen idealisierte, romantische Beziehungen zwischen jungen Männern im Mittelpunkt – meist mit eher wenigen sexuellen Elementen, die oft nur auf Andeutungen beschränkt sind. „In ‚softeren’ Boys-Love-Stories wie Only the Ringfinger Knows oder Rin! geht es weniger um Sex als darum, wie die Charaktere schier unmögliche äußere Umstände meistern, um zusammenzukommen – also dass Liebe eben im romantischen Sinne Grenzen sprengen und überwinden kann“, erklärt Carlsens Manga-Programmleiter Kai Steffen Schwarz. Weitere in Deutschland bekannte Shonen-Ai-Titel sind beispielsweise Gravitation, Loveless, Zetsuai, Das Demian-Syndrom, New York New York und Küss Mich, Student.

In Yaoi-Manga wie Kizuna, Bronze, yellow_pageDesire oder Love Mode geht es hingegen weitaus expliziter zur Sache. Die Unterscheidung in Shonen-Ai und Yaoi wird aber wie gesagt nur in westlichen Ländern vorgenommen (wenn auch die Verwendung nicht wirklich einheitlich ist und oft wohl eher zu Verwirrung führt). In Japan steht der Begriff Yaoi eigentlich für Fangeschichten, in denen bekannte männliche Figuren aus Manga und Anime homosexuelle und oft deftig-pornografische Abenteuer erleben; die Bezeichnung Shonen-Ai bezieht sich in Japan nur auf Mangas mit jungen Protagonisten und wird mittlerweile kaum noch verwendet. Stattdessen gilt mittlerweile für alle Comics, die Beziehungen unter zwei Männern zum Thema haben und an eine weibliche Leserschaft gerichtet sind, der Sammelbegriff „Boys Love“ (oft als „BL“ abgekürzt). Weitere hierzulande populäre Titel aus der Veröffentlichungsflut an BL-Manga, die teils weit oben in den Verkaufscharts mitmischen, sind Fake, Kleiner Schmetterling, Ohne Viele Worte, Color, Yellow, Wild Rock, Traumboyz, Verliebter Tyrann, Gib Mir Mehr, Junjo Romantica, Innocent Bird und Electric Hands.

In den USA verkaufen sich BL-Manga mittlerweile soStupid Story von Anna Hollmann gut, dass die dortigen Verlage neben japanischen Übersetzungen seit einer Weile auch englischsprachige Eigenproduktionen auf den Markt bringen. Ähnlich verhält es sich in Deutschland. So erscheint bei EMA die Serie Musouka von Diana Liesaus, bei Carlsen Killing Iago von Zofia Garden und Tokyopop veröffentlicht Stupid Story von Anna Hollmann; letzterer wurde als einer der bestverkauften nationalen Manga für den Sondermann-Preis 2008 der Frankfurter Buchmesse nominiert.

Die kleineren Verlage The Wildside und Fireangels haben sich gar hauptsächlich auf Yaoi- und Shonen-Ai-Geschichten spezialisiert. Bei The Wildside erschien bisher neben mehreren BL-Manga von italienischen und spanischen Künstlerinnen auch der Band Lost and Found aus der Feder der deutschen Mangaka Zombiesmile. Fireangels veröffentlicht unter anderem die deutschen BL-Anthologien Lemon Law und Lime Law und den zweibändigen Manga K-A-E 29th Secret von Martina Peters sowie Apokryphum von Susette Bätz.

Frauen, die Männer mögen, die Männer mögen?

Bleibt die Frage: Was fasziniert das überwiegend weibliche Publikum so an diesem Genre? Damit haben sich bereits zahlreiche Journalisten und Musouka von Diana Liesaussogar eine Reihe Sozial- und Literaturwissenschaftler in Studien beschäftigt. Tamara Kastl von EMA fasst ein paar der am meisten verbreiteten Annahmen zusammen: „Viele Leserinnen befinden sich in der Pubertät und tasten sich langsam an Sexualität und Gefühle heran. Die Shonen Ai-Mangas sind meist sehr romantisch und ansprechend gezeichnet, was die jungen Leserinnen natürlich anspricht. Vor allem befinden sie sich außerhalb jeglicher Konkurrenz oder Eifersucht gegenüber weiblichen Charakteren. Darüber hinaus sind die Verhältnisse in den dargestellten Beziehungen zwischen Männern durchaus mit denen einer heterosexuellen Beziehung zu vergleichen. Man darf nicht vergessen, dass Shonen Ai-Mangas selten die Realität schwuler Pärchen darstellen.“ Eine stereotype Rollenverteilung in „Seme“ (männlicher, aggressiver Part) und „Uke“ (eher femininer Part), stilisierte, oft geradezu androgyn gezeichnete Männerkörper und recht realitätsferne Geschichten kennzeichnen die meisten, wenn auch nicht alle, Boys Love-Manga.

Gerade diese unrealistischen Elemente scheinen bei vielen BL-Leserinnen einen großen Teil der Faszination an dem Genre auszumachen. Nach Kai-Steffen Schwarz’ Ansicht sind es oft „hochgradig absurde und selbstironische Boys-Love-Szenarien“, die den Leserinnen besonders viel Spaß bereiten. Außerdem verweist er noch auf den „Boygroup-Effekt“: „Es gibt immer gleich mehrere Jungs als Charaktere, mit unterschiedlichen Haarfarben, Charakterzügen, Rollenverteilungen und so weiter – mindestens ein ‚toller Typ für jeden Geschmack’ wird sich in den Geschichten also mit Sicherheit finden.“

Japanischer Gei-comiUngeachtet der Tatsache, dass Boys- Love-Manga überwiegend von weiblichen Künstlern für ein weibliches Publikum gezeichnet werden und in den meisten Fällen weder realistisch sind noch sein wollen, werden sie durchaus auch von schwulen männlichen Lesern gekauft. Die Leserschaft von BL-Manga besteht in Japan laut unterschiedlichen Schätzungen zu 75 bis 85 Prozent aus Mädchen und jungen Frauen. Den Rest machen männliche Leser aus, sowohl hetero- als auch homosexuelle. „Wir gehen davon aus, dass es sich in Deutschland ähnlich verhält, haben aber keine genauen Zahlen dazu“, so EMAs Tamara Kastl. „Wir werden durchaus auf Messen auch von männlichen Lesern angesprochen und erhalten auch in letzter Zeit vermehrt Anfragen von Magazinen, Webportalen etc. der homosexuellen Szene.“ Auch Britta Harms, Carlsens Redakteurin für Shoujo & Boys Love bestätigt, dass es in Deutschland eine gewisse Anzahl von Männern gibt, die Boys Love lesen, betont aber, dass hierzulande, wie auch in Japan, weiterhin ganz klar junge Frauen die Hauptzielgruppe für Boys Love seien.

Anders verhält es sich in Italien, wo schwule Männer nahezu die Hälfte der BL-Leserschaft ausmachen. In Japan gibt es für schwule Mangafans, die sich mit dem Stil und der Darstellung homosexueller Beziehungen in BL-Manga nicht anfreunden können, hingegen speziell an sie gerichtete „Gei-comi“, auch „Bara“ genannt.

Der weibliche Gegenpart: Yuri

Ungefähr zur selben Zeit, als in Japan das Boys- Erster Yuri: Shiroi Heya no FutariLove-Genre aus der Taufe gehoben wurde, entstand auch das weibliche Gegenstück. 1971 erschien mit Shiroi Heya no Futari von Ryoko Yamagishi auch der erste Manga, der eine lesbische Beziehung thematisierte. Die tragisch endende Liebesgeschichte zweier grundverschiedener Schülerinnen auf einem französischen Internat wurde schematische Vorlage für viele folgende Manga mit lesbischen Inhalten, für die später der Sammelbegriff „Yuri“ gewählt wurde. Erst in den 1990ern wurde das typische Yuri-Schema „Gegensätzliche Figuren + Unglückliche Liebe = Tragisches Ende“ durchbrochen und Frauenpaaren mehr Glück zugestanden. Beispielsweise tauchte in der berühmt-berüchtigten Bestsellerserie Sailor Moon mit den Figuren Michiru und Haruka alias Sailor Neptune und Sailor Uranus ein positiv dargestelltes lesbisches Paar auf.

Den Erfolg und die große Akzeptanz von Boys Love-Manga erreichten Yuri-Comics zwar nicht, aber vor allem in den letzten Jahren wurde eine Reihe von Manga mit Yuri als zentralem Element veröffentlicht. 2003 erschien mit Yuri Shimai außerdem zum ersten Mal einecomic_yuri_hime Magazin-Anthologie zum Thema, die 2005 durch die Reihe Comic Yuri Hime ersetzt wurde. Mehrere dort veröffentlichte Fortsetzungsgeschichten wie First Love Sisters und Voiceful sind als Sammelbände auch auf dem US-Markt erschienen. Auf Deutsch sind bisher nur wenige spezielle Yuri-Titel zu finden, unter anderem Blue von Kiriko Nananan (Verlag Schreiber & Leser), Between the Sheets von Erica Sakurazawa (Tokyopop) und die humorige Erotik-Fantasy Miyuki-Chan im Wunderland vom Künstlerkollektiv CLAMP (Carlsen). Und noch 2008 will sich EMA mit Chi-Rans Girl’s Love – Shojo Bigaku an die Veröffentlichung seines ersten Yuri-Manga wagen. Außerdem gibt es bei Carlsen die freizügigen SF-Manga Chirality und Ragnarock City von Satoshi Urusihara, die sich aber eher an ein männliches Publikum richten – Urusiharas Beiname „Herr der Brüste“ sagt schon alles. Laut Kai-Steffen Schwarz sei man im Verlag dem Yuri-Genre gegenüber durchaus aufgeschlossen, aber noch auf der Suche nach passenden Inhalten für das Verlagsprogramm. Ein deutsches Yuri-Magazin namens Lily erscheint ab September 2008 beim Fireangels Verlag.

Obwohl Yuri ursprünglich in Shojo-Manga für Mädchen auftauchte, findet man Yuri-Elemente heutzutage allgemein in vielen an Jungen gerichteten Shonen-Serien, z.B. in Burst Angel oder Magister Negi Magi. Auffallend dabei: Während man allgemein akzeptiert und kaum hinterfragt, dass sich viele männliche Leser bei der Mangalektüre gerne von lesbischer Erotik antörnen lassen, wird der Umstand, dass Mädchen und Frauen Interesse an Manga über Männerliebe haben, zu einem besonderen Phänomen gekürt, das man in zahlreichen Artikeln und sogar einigen wissenschaftlichen Studien zu ergründen sucht. Dabei liegt die Erklärung laut Carlsen-Redakteurin Britta Harms auf der Hand: „Ich persönlich denke, dass es faszinierend für Frauen ist, sich zwei gut aussehende Männer in einer Liebessituation vorzustellen. Ähnlich wie die Vorstellung von zwei Frauen für Männer schön ist.“

Auch wenn man sich über die Darstellung gleichgeschlechtlicher Beziehungen in Manga wohl vortrefflich streiten kann, muss man festhalten, dass sie hier ein im Comicmedium bisher nie da gewesenes Forum gefunden haben. Ganz anders verhält es sich mit dem US-amerikanischen Superheldengenre – mehr dazu im zweiten Teil des Artikels.

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Comic Strips:
Adam & Andy
Chelsea Boys
Doonesbury
Dykes to Watch Out For
For Better Or Worse
Jane’s World
Kyle’s Bed & Breakfast
Zuckerfisch

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Howard Cruse
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Judd Winick
Ralf König

Robert Kirby
Swen Marcel
Thilo Krapp
Tim Fish
Tom Bouden

Ein guter Anlaufpunkt, um mehr über homosexuelle Künstler und ihre Comics in den USA zu erfahren, ist die Homepage der gemeinnützigen Organisation Prism Comics, die es sich zum Ziel gesetzt hat, Comics mit lesbischen, schwulen, bi- und transsexuellen Figuren und Themen, deren Künstler und Leser zu unterstützen: http://prismcomics.org

Bilder © DC, Marvel, IDW, Roberta Gregory, Gary Trudeau, Lynn Johnston Productions, Tom Bouden, Tim Fish, Ariel Schrag, Naomi Fearn, Manic D Press, Rebellion Developments, Carlsen, Tokyopop, EMA, Aqua Comics, Shueisha, Ichijinsha