Auf einer Podiumsdiskussion vor einigen Wochen im Münchener Literaturhaus wurde zum x-ten Mal über das Für und Wider des Prädikats „Graphic Novel“ und seiner Stellung auf dem Buchmarkt gesprochen. Ein nicht uninteressanter Vorschlag kam dabei von Armin Abmeier, dem Herausgeber von Die Tollen Hefte: Man könnte doch anspruchsvolle Comics wie Romane behandeln und sie in die jeweilige Genre-Kategorie in der Buchhandlung einordnen, um so Vorurteile gegenüber dem Comic zu überbrücken. Ein Comic mit dem Aufkleber „Graphic Novel“, der diesen Weg hier exemplarisch gehen soll, ist Sascha Hommers neuer Comic Vier Augen aus dem Hause Reprodukt.
Sascha Hommer, der nicht nur durch seinen Debüt-Comic Insekt, sondern auch durch seine Herausgebertätigkeit bei dem Comicmagazin Orang und seine redaktionelle Arbeit für die Radiosendung Comickabinett auf sich aufmerksam machte, blickt in Vier Augen in die Vergangenheit seines Protagonisten, die seiner eigenen nicht ganz unähnlich ist. Aber ob diese Geschichte nun semi- oder autobiografisch oder keines von beiden ist, sollen am Ende andere entscheiden. Gucken wir uns zunächst die Handlung an und suchen für Vier Augen einen geeigneten Platz im Regal der Buchhandlungen.
Ein junger Mann kehrt in seine Heimat zurück, begleitet von einem sprechenden afghanischen Windhund. Doch anstatt alte Freunde in der Provinz zu besuchen, führt der Erzähler seinen Hund in die Abgeschiedenheit des Schwarzwalds. Dort erzählt er seinem tierischen Begleiter Geschichten aus seiner Vergangenheit, von seiner ersten Liebe, von Freundschaften und von seinen Erfahrungen mit Drogen. Immer wieder taucht der Erzähler aus der Reflektion über die Jugend auf, gibt kurze Kommentare ab, nur um anschließend wieder über Vergangenes zu rekurrieren. Da sich der Großteil der Handlung von Vier Augen in der erzählten Vergangenheit abspielt, aber dennoch die Reflektion dieser Geschichte im Vordergrund steht, weist der Comic viele Überschneidungen mit dem Genre eines Coming-of-Age- oder eines Entwicklungsromans auf.
Die Sprache der Figuren und die Gespräche übers Eimerrauchen und Frauen fängt Hommer zwar geschickt ein und erzeugt dadurch ein Gefühl des Bekannten, doch wirkt die Geschichte überladen von dieser Grundstimmung. Neben der omnipräsenten Szenerie der Grunge-Jahre der frühen Neunziger drohen die Probleme von Vertrauen und Verlust, die Hommer eigentlich zu erzählen versucht, unterzugehen. Die Nebenhandlung ist so überlagernd, dass sowohl Saschas Ängste um seine erste Beziehung, als auch die Bulimie Julias kaum nachvollziehbar werden und zur eigentlichen Nebensache reduziert werden.
Was das Grafische angeht, scheint sich im Werk von Hommer eine Emanzipation vollzogen zu haben. Weg von den kleinen überproportionierten Köpfen der kindlichen Protagonisten aus Insekt hin zu einem Stil, der eher als realistisch zu bezeichnen ist. Noch stärker als in seinem Debüt schließt Hommer dabei die Natur, den Schwarzwald, ein und macht ihn zum Hauptspielplatz der Handlung. Geblieben sind die Grauschattierungen, die seiner Welt Tiefe geben, verschwunden ist leider der drückende Nebel, dessen großartige allegorische Wirkung über den Menschen und Insekten wie eine zentnerschwere Last lag. Sich selbst um eine Stärke beraubt, tobt sich Hommer dafür bei der Darstellung der Drogenexzesse aus, die zwar wirkungsvoll in Szene gesetzt sind, aber genauso im luftleeren Raum der Geschichte hängen bleiben, wie die gesamte Milieuskizze der Neunziger.
Auch wenn man der hier getroffenen Einteilung in das Genre Coming-of-Age widersprechen kann, was nur legitim ist, so fällt bei der Lektüre doch auf, dass der Protagonist mit Konflikten in seiner Jugend zu kämpfen hat. So viel ist sicher unbestritten. Begibt man sich als Leser nun auf die Suche nach der Auflösung dieses Konflikts, der Katharsis, so wird man zwar fündig, aber nicht auf eine zufriedenstellende Art und Weise. Es wird dem Leser zwar vermittelt, dass sich in der Welt des Protagonisten Veränderungen vollzogen haben, doch wie diese vonstatten gegangen sind, enthält Hommer seinen Lesern vor. Wie ein Spiegelbild ähnelt der Erzähler der Rahmenhandlung seinem jugendlichen Alter Ego, doch scheinen sich all dessen Probleme auf den eingefügten leeren Einzel- und Doppelseiten in Luft aufgelöst zu haben. Was bleibt, sind zwei verzerrte Ebenbilder, die unabhängig von Hommers eigener Geschichte, wie zwei unverbundene Hälften wirken. Da hilft auch der innere Windhund als Erklärungsmodell nicht.
Wären deutsche Buchhandlungen schlichtweg nach Genre sortiert, würde Hommers Vier Augen irgendwo zwischen Zach Braffs Film Garden State und Charles Dickens Roman Great Expectations stehen. Während die zugegebermaßen übergroßen Konkurrenten nicht nur Konflikte aufbauen, sondern diese auch auflösen, präsentiert Hommer in Vier Augen zwar die Nacherzählung der problembehafteten Vergangenheit und die Lösung dieser, doch wird dem Leser der eigentliche Prozess, die Entwicklung, vorenthalten. Diese Erkenntnis wird durch die Bebilderung unterstrichen, die sich in der schieren Darstellung von Drogenexessen verrennt.
Vier Augen
Reprodukt, Oktober 2009
Text und Zeichnungen: Sascha Hommer
122 Seiten, Softcover, schwarzweiß, 13,00 Euro.
ISBN: 978-3-938511-59-6
Abbildungen: © Sascha Hommer / Reprodukt