Im Sommer letzten Jahres schloss der Splitter-Verlag ein Comicprojekt ab, dessen erste Schritte bereits sieben Jahre zuvor gemacht wurden: Damals erschienen beim Label Speed XXL die ersten zwei Bände der Albenreihe Unter Knochen von Éric Liberge, zunächst noch in Schwarz-Weiß. Mittlerweile ist Speed längst Geschichte, die ersten zwei Alben erschienen in Frankreich in einer zweiten, diesmal kolorierten Fassung, und die Serie wurde mit zwei weiteren Ausgaben abgeschlossen. Bei Splitter liegt inzwischen die komplette Reihe in Farbe unter dem Titel Monsieur Mardi-Gras – Unter Knochen vor.
Das erste, was dem Leser bei diesem Comic auffällt, sind die Figuren: Es handelt sich ausschließlich um Skelette. Denn Unter Knochen spielt im Fegefeuer. Bei Éric Liberge ist dies eine düstere Version des Jenseits: ein Totenreich, in dem die Menschen unmittelbar nach ihrem Tod landen, zwar ohne ihre leibliche Hülle, aber zumindest mit einem Bewusstsein und einem Skelett. Das Fegefeuer, so lehrt es die Kirche und so erwarten es auch die Bewohner dieser Geschichte, ist nur eine Durchgangsstation. Doch hier entpuppt es sich als Sackgasse: Alle warten und warten, aber nichts geschieht. Und weil sich ihre Gebeine über die Jahre abnutzen, müssen sich die Skelette diverse Ersatzteile suchen, wenn mal wieder ein Schienbein oder eine Schädeldecke zu Bruch gegangen ist.
Liberge nutzt diesen Kniff, um seine Figuren, die ja grundsätzlich alle sehr gleich aussehen, unterscheidbar zu machen. So sind sich die unzähligen Skelette zwar ähnlich, aber jedes von ihnen besitzt eine kleine Besonderheit. Die Hauptfigur beispielsweise hat eine Kaffeemühle auf dem Kopf. Sie ist es, die – genau wie der Leser – auf der ersten Seite völlig ahnungslos und fremd im Totenreich ankommt, in einer grauen, steinigen, endlosen Mondlandschaft. Victor Tourterelle heißt der Neuling, doch ab sofort bekommt er einen neuen Namen: Weil er zwischen Karnevalsdienstag und Aschermittwoch gestorben ist, heißt er jetzt eben Mardi-Gras Aschermittwoch. Diese und andere Regeln bekommt Victor von einem Postboten erklärt, der ihn ordnungsgemäß in Empfang nimmt.
Während wir gemeinsam mit Victor staundend diese tote, fremde Welt kennenlernen, stellt sich langsam heraus, dass eine Verschwörung im Gange ist. Das Fegefeuer wird von einem strengen Regime kontrolliert, das seine Bewohner im Unklaren lässt, was mit ihnen geschieht. Allzu neugierige Personen werden weggesperrt. Eine kleine Gruppe von Widerständlern will aber genauer wissen, was es mit dem Fegefeuer eigentlich auf sich hat und setzt dabei große Hoffnungen in den Neuankömmling Victor: Dieser war nämlich im irdischen Leben Kartograph – nun soll er das Totenreich vermessen und eine Landkarte anfertigen.
Unter Knochen beginnt im ersten Band mit einer großen Portion galligem Humor. Das Fegefeuer als verkommene Parallelgesellschaft, wo körperliche Genüsse nicht mehr möglich sind: Die Leute verzehren sich nach Wein oder Kaffee, müssen aber mit Quecksilber oder Altöl als Erfrischungsgetränke vorlieb nehmen. Der sarkastische Grundton, den das erste Album auszeichnet, geht leider in den Folgebänden nach und nach verloren. Stattdessen wird die Serie immer mehr zur metaphysischen Betrachtung des Lebens nach dem Tod. Mit der Hilfe von Kaffee, der hier die Rolle einer bewusstseinserweiternden Droge einnimmt, begibt sich Monsieur Mardi-Gras auf einen Trip zum Inneren des Fegefeuers, der deutlich von den zehn Kreisen der Hölle in Dantes Göttlicher Komödie inspiriert ist. Und während die Hauptfigur sich auf ihrem posthumen Selbstfindungstrip befindet, spielt sich in der Hauptstadt des Fegefeuers eine Revolution ab, die die bisherigen Regeln ins Wanken bringt und all den unerlösten Skeletten einen Ausweg aus der endlosen Dauerschleife des Fegefeuers verspricht. Aber wollen sie das überhaupt? Oder ist dieses jenseitige Leben nicht doch ganz angenehm?
Éric Liberge hat mit diesem Comic, an dem er insgesamt über acht Jahre gearbeitet hat, ein außergewöhnliches Werk geschaffen, das in keine Genre-Schublade passt und auf alle Fälle lesenswert ist. Möglicherweise wäre Unter Knochen noch besser geworden, wenn Liberge bei der eher bodenständigen und leicht nachvollziehbaren Geschichte geblieben wäre, die er im ersten Album erzählt. In den Folgebänden entwirft er dagegen ein immer komplexer werdendes Geflecht, um das Wesen und die Entstehung des Fegefeuers zu erklären. Das ist zwar reich an kulturhistorischen Anspielungen und lässt sich vielseitig interpretieren, das Lesevergnügen leidet allerdings unter der Last dieses Überbaus, auch weil der Humor mit fortschreitender Handlung auf der Strecke bleibt.
Grafisch hingegen steigert sich die Serie mit jedem Album. Den ersten beiden Bänden ist anzumerken, dass sie ursprünglich schwarz-weiß gezeichnet und später nur ganz dezent nachkoloriert wurden. Später änderte Liberge seine Zeichentechnik, so dass seine Bilder noch deutlich filigraner wirken. Er erschafft hier eine unwirkliche, faszinierend düstere und sehr detailreiche Welt, in die man als Leser gerne eintaucht, auch wenn sie alles andere als einladend wirkt.
Monsieur Mardi-Gras – Unter Knochen
Band 1: Willkommen!
Band 2: Das Teleskop von Charon
Band 3: Das Land der Tränen
Band 4: Die Formel der Wiederauferstehung
Splitter Verlag, 2008-2009
Text und Zeichnungen: Éric Liberge
Hardcover, farbig; Bd. 1-3: je 64 Seiten, 13,80 Euro, Bd. 4: 72 Seiten, 14,80 Euro
Abbildungen: © Splitter Verlag