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Zwischen Zensur und Zügellosigkeit – Hellblazer 1998 bis 2001

Nach der dreiteiligen Artikelreihe über die frühen Jahre der Vertigo-Serie Hellblazer und einem weiteren Aufsatz über die Paul-Jenkins-Jahre folgt nun der fünfte Teil von Christian Muschwecks Hellblazer-Betrachtungen, in dem er sich mit den recht umstrittenen Runs der Autoren Warren Ellis und Brian Azzarello beschäftigt:

 

Cover Hellblazer 129DC-Comics, Vertigo, 1998: Langsam deutete sich an, dass die Formel, mit der Vertigo 1993 gestartet wurde, keinen dauerhaften Erfolg garantieren kann. Serien wie Swamp Thing, Sandman und Shade sind inzwischen eingestellt worden; und so hat sich Vertigo seitdem zu DCs Experimentierküche gemausert. Waren die ursprünglichen Serienkonzepte sehr fantasylastig gewesen, wandten sich die Serien nun mehr und mehr Crime-, Thriller- und Reality-Stoffen zu. Serien wie Preacher, Scene of the Crime und 100 Bullets waren das Resultat. Eine gewisse Unsicherheit und ein zunehmender Erfolgsdruck wurden spürbar und erste Sparmaßnahmen dämpften die Euphorie der frühen Jahre. Nicht zufällig wurden zu dieser Zeit die Leserbriefseiten in den Heften eliminiert, für Interaktion zwischen Leser und Verlag war ab sofort allein das Internet zuständig. Wer sich an die launigen Leserbriefseiten erinnert, die viele Serien bis zu diesem Zeitpunkt unterhielten, konnte diesen Schritt nur bedauern.

 

Ein Ennis-Intermezzo

Auch die Serie Hellblazer wurde umgekrempelt. Nach dem behäbigen Paul-Jenkins-Run sollte die Reihe saftiger und härter werden. Der angekündigte neue Star-Autor Warren Ellis hatte sogleich angekündigt, er wolle „Handgranaten in die Serie“ werfen. (Nachzulesen auf der Leserbriefseite von Heft 128, der letzten von Paul Jenkins geschriebenen Nummer). Zuvor durfte aber schon einmal Garth Ennis die Leserschaft auf einen Wechsel einstimmen. Sein Fünfteiler Son of Man bricht radikal mit der Figur des menschenfreundlichen John Constantine der vorangegangenen Jahre. Das wäre in Ordnung gegangen, wenn Ennis an die Qualität seiner früheren Hellblazer-Erzählungen angeknüpft hätte, aber leider entschied er sich für einen recht faden Mix aus Splatterkomödie und Gewalt-Groteske.

Ennis versucht, alte Themen des Hellblazer-Kosmos komödiantisch zu variieren, wie sich beispielsweise in folgender Szene zeigt, die Johns Verhältnis zu seinem Vater aufgreift, der ja bekanntlich in der Hölle brennt. Ein Besessener versucht Constantine zu provozieren: “Your father sucks the flaking cocks of lepers in the lowest circle of hell“ (Genre-Fans erkennen das Exorzist-Zitat). Darauf Constantine: „Does he swallow? […] Just wondering if he swallowed. That’d be horrible.“1

Bild 1, Hellblazer 131 (Garth Ennis, John Higgins)

Solche Dialoge wirken bemüht und sind einfach nicht spritzig genug. Ennis‘ Humor wirkt so, als wäre er zu dieser Zeit stark durch South Park inspiriert gewesen, und tatsächlich ist Garth Ennis erklärtermaßen großer South Park-Fan. Dennoch bleibt es gewöhnungsbedürftig, wenn Rick the Vic, bekannt aus Ennis‘ früheren Episoden, seine Kirchengemeinde „I’m worshipping Satan“2 singen lässt oder John eine Lesbierin flachlegt. Der Humor wirkt gezwungen und John Higgins ist wohl auch nicht der geeignete Zeichner für diese Art von Comedy.

Bild 2, Hellblazer 130 (Garth Ennis, John Higgins)

Bild 3, Hellblazer 131 (Garth Ennis, John Higgins)

Darüber hinaus gibt es den üblichen Mix aus extremer Gewalt und Splatter und eine angedeutete Vorahnung von dem, was Ennis Jahre später mit Crossed noch explizit zu Papier bringen sollte. „Son of Man“ ist ein früher Beleg der Tatsache, dass Garth Ennis nicht nur ein großes Erzähltalent hat, sondern auch einen ziemlichen Sprung in der Schüssel. Der Hauptplot handelt von einem dämonischen Jungen, der die Geburt des Antichristen in die Wege leiten will, was die Perversion bzw. Umkehrung der gängigen Rituale und Vorgänge erfordert (nicht umsonst ist das umgedrehte Kreuz ein Satanssymbol). Aber wie inszeniert man die Ankunft des Antichristen? Der Dämonenjunge weiß die Antwort: „It has to be a perversion of […] the virgin birth. I’m building a religion here. […] I thought a man made pregnant by the seed of hell and shitting out a child would do nicely.“ – „But how?“ frägt sein Diener?“ – „I cut a slit in his belly and fucked him through it.“3

Bild 4, Hellblazer 133 (Garth Ennis, John Higgins)

Die Geschichte ist es nicht wert, sich noch weitere Gedanken darüber zu machen.

 

Enter Warren Ellis

Nach Garth Ennis‘ Abschied blieb der Zeichner John Higgins der Reihe noch ein halbes Jahr erhalten und illustrierte auch Warren Ellis‘ erste Geschichte, „Haunted“. Warren Ellis macht in „Haunted“ vieles richtig und nimmt die Figur Constantine ernst. Dabei wirft er einige Altlasten über den Haufen und erfindet die Figur für sich neu. Sein Constantine ist eine ziemlich mächtige Figur, die mit der Stadt London und deren Vergangenheit eine fast symbiotische Beziehung unterhält. In Haunted ist die düstere Vergangenheit dieser Stadt stets präsent und John Constantine wird von den Geistern der Londoner Stadtgeschichte ebenso heimgesucht wie von seinen persönlichen Geistern, daher auch der Titel der Storyline.

Bild 5, Hellblazer 135 (Warren Ellis, John Higgins)

Es geht darum, dass John den bestialischen Mord an einer jungen Frau, Isabel, aufklären möchte, mit der er in den 80ern eine Beziehung hatte. Isabel war, wie viele von Constantines Bekanntschaften dieser Zeit, der Droge Magie verfallen und wurde in ihrer Naivität Opfer eines skrupellosen Nachwuchszauberers, der sie mit dem satanistischen Credo „Tu was du willst“ verführte und später dann missbrauchte und ermordete.

Bild 6, Hellblazer 138 (Warren Ellis, John Higgins)

Warren Ellis macht aus dieser Grundprämisse eine fast klassische Whodunnit-Story, die er im Stil düsterer Hardboiled-Krimis erzählt. Die Dialoge wirken wie dem Stil von James-Ellroy-Romanen entlehnt4 und die Figuren sind entsprechend tough. Gleichzeitig ist „Haunted“ aber nicht sonderlich plotlastig, sondern lebt vor allem von seinen Stimmungsbildern. Die inneren Monologe tendieren dabei mitunter zur Redundanz und teilweise betreibt Ellis Seitenschinderei. Aber Zeichner Higgins kleidet die Story stets in stimmungsvolle Panels und man merkt dem Team auf jeder Seite an, dass es seine eigene Vision von Hellblazer hat. Durch Warren Ellis wird John Constantine wieder zu einer geheimnisvollen Figur. Er charakterisiert ihn als wirkmächtigen Zauberer, dessen Gabe, aus der Ferne Angstzustände auslösen zu können, beispielsweise nicht weiter erklärt wird.

Hellblazer ist bei Warren Ellis äußerst düster, humorlos und blutig ausgefallen. Nach längerer Zeit wird auch das Element der Drogensucht und sozialer Missstände wieder stark in den Focus gerückt, aber im Gegensatz zu Jamie Delano ist der Blick darauf weniger empathisch. Bei Ellis dient dieser Aspekt lediglich der Staffage, um eine möglichst verkommene, kranke und kaputte Atmosphäre zu zeigen.

 

Exit Warren Ellis – Vier Kurzgeschichten und ein vorzeitiger Bruch

Warren Ellis‘ zweiter Hellblazer-Zyklus sollte ein Reigen von sechs pointierten Kurzgeschichten werden, jeweils von einem unterschiedlichen Künstler gestaltet. Letztlich sind davon nur noch vier Hefte in der regulären Reihe erschienen, die skandalöse fünfte Story über School Shootings wurde erst über 10 Jahre später in einem Sonderheft unter dem Motto Vertigo Resurrected erstveröffentlicht. DC wollte diese Geschichte über amoklaufende Schüler 1999 angesichts des gerade erst geschehenen Columbine-Massakers aus Pietätsgründen nicht veröffentlichen. Warren Ellis aber hatte keine Lust auf Kompromisse und ließ seinen Hellblazer-Run unvollendet.

Die ersten beiden Hefte dieses Zyklus möchte ich beide – vielleicht etwas hochtrabend – als Reflexionen über die Banalität des Bösen bezeichnen. Beide Geschichten handeln von Psychopathen, die sich über ihre bestialischen Mordtaten definieren und für übermächtig halten. Da ist es natürlich an Constantine, diesen Wahnsinnigen den Spiegel vorzuhalten und ihnen zu zeigen, was für unbedeutender Abschaum sie trotz allem sind. In beiden Geschichten wird Constantine von den Zeichnern reichlich kaputt und verlebt interpretiert. Vor allem Tim Bradstreet, der zu dieser Zeit auch die Covers gestaltete, zeigt John stinkend, dreckig und zerknittert, dass man sich wundern muss, wie dieser Mann je in einen Pub gelassen wurde. Ob das der Figur die nötige Street-Credibility verleihen sollte, um mit Mördern und Psychopathen auf Augenhöhe verhandeln zu können? Warren Ellis und Tim Bradstreet nehmen John Constantine hier den letzten Rest Glamour – John ist hier nicht nur zwielichtig, er ist eklig.

Bild 7, Hellblazer 141 (Warren Ellis, Tim Bradstreet)

Ansonsten tritt Hellblazer zu diesem Zeitpunkt inhaltlich etwas auf der Stelle, denn nimmt man den bösen Okkultisten aus „Haunted“ dazu, hat Warren Ellis seinen Mördern dreimal hintereinander die gleiche Motivation zugeschrieben: Den Wunsch, dem eintönigen Leben durch Mord und Hass einen Sinn zu geben und sich selbst über andere zu stellen. Warren Ellis‘ Hauptthema ist damit überdeutlich sichtbar.

Das dritte Heft des Reigens präsentiert gleich zwei Kurzgeschichten. In der gefälligeren der beiden Episoden lässt Constantine, mal wieder besoffen, seine alten Liebschaften Revue passieren. Das ist von James Romberger schön gezeichnet und angemessen melancholisch erzählt. Die andere Episode, „Setting Sun“, ist dagegen ziemlich biestig. Warren Ellis zitiert (klaut) dabei schamlos ganze Szenen eines ultraharten Hongkong-Films der 80er Jahre, Men Behind the Sun, der in äußerst drastischen Bildern japanische Kriegsgreuel aus dem Zweiten Weltkrieg nachstellt und dabei auch vor Tierquälerei und echten Leichenteilen nicht zurückschreckte.5 Es geht in dieser Episode um einen alten Japaner, der grauenvolle Menschenversuche in einem japanischen Konzentrationslager zu verantworten hat und deshalb keinen Frieden findet. Er sagt, er habe hat zu viel Leid ausgeteilt und dabei zu wenig selbst an gleichwertigen Gefühlen empfangen. Daher bittet er John Constantine darum, die Gleichung wiederherzustellen: Er soll ihn bei lebendigem Leib sezieren.

Bild 8, Hellblazer 142 (Warren Ellis, Javier Pulido)

Ist Warren Ellis mit solchen Geschichten anspruchsvoll oder prätentiös? Gerade mit seinen Kurzgeschichten begibt er sich oft auf eine Gratwanderung zwischen Exploitation und Küchenpsychologie und seine Ideen überzeugen dabei nicht immer.

Die letzte Kurzgeschichte, „Telling Tales“, ist immerhin recht unterhaltsam geraten. Constantine gibt hier den Münchhausen und erzählt einem Reporter allerhand erfundene Räuberpistolen über das angeblich so okkulte London, ein Schlangenkult im Buckingham Palace und ein Komplott gegen Lady Di inklusive. Hier tritt zum ersten mal der Argentinier Marcelo Frusin als Zeichner auf, der noch viele Hellblazer-Hefte zeichnen sollte.

 

Shoot

Die Folge „Shoot“ war geschrieben und von Phil Jimenez fertig gezeichnet, bevor die Tragödie um das Columbine High School Shooting Amerika erschütterte. Nach dieser Tragödie war das Thema von um sich schießenden Schülern verständlicherweise nicht gern gesehen. Warren Ellis wurde nahegelegt, einige Details in seinem Skript zu ändern, aber dieser hielt an seiner ursprünglichen Vision fest und war zu keinen Zugeständnissen bereit. Ein Kompromiss hätte sicher die Pointe der Geschichte zerstört, aber Tatsache ist auch, dass diese Pointe nicht so geistreich ist, wie Ellis sie selbst sieht. Kurz zusammengefasst geht die Geschichte so: Überall in Amerika erschüttern Schießereien unter Schülern die Bevölkerung. Einer jungen Wissenschaftlerin, die darüber forscht, ist auf Videodokumenten aufgefallen, dass John Constantine an vielen Tatorten anwesend war und stellt daher Nachforschungen an. Aber auch John, so zeigt sich, wollte nichts anderes, als die Hintergründe dieser Vorkommnisse aufdecken. Seine Erkenntnis: Die Jugendlichen, auch die Opfer, wollten sterben. Sie hassten das Leben, in das sie hineingeboren werden, den schulischen Drill und ihre Perspektivlosigkeit. Warren Ellis projiziert auf diese Weise den Nihilismus der School Shooters auf deren Opfer und fällt sein unfaires Urteil über eine ganze Generation.

Vertigo Comics warben immer damit, intelligent, ausgefallen, provokativ und gefährlich zu sein, aber was Warren Ellis und sein Zeichner Phil Jimenez zu Papier gebracht haben, kann tatsächlich als Verhöhnung von Opfern solcher School Shootings gesehen werden. Um die Zensur von „Shoot“ wurde damals viel Wind gemacht und Paul Levitz, Vorsitzender des DC-Verlags, hätte heutzutage bei ähnlicher Vorgehensweise wohl einen Shitstorm ohnegleichen zu ertragen gehabt. Das ändert nichts daran, dass Warren Ellis‘ Sicht der Dinge – vor allem angesichts tatsächlicher Ereignisse – prätentiös und überheblich ist. Als hätte John Constantine die Wahrheit alleine für sich gepachtet, kanzelt er die Wissenschaftlerin mit fragwürdigen Allgemeinplätzen ab: „I’ve read your notes, your bloody thesis … You don’t have the faintest idea what you’re looking at, just like the rest of the stupid fucking country …“.6

Fast schon unfreiwillig komisch, singt Constantine bzw. Ellis (die beiden sprechen hier wohl mit gleicher Stimme) dazu noch das Hohelied auf eine Jugend, die ohne Zensur Zugang zu allem haben soll, als wäre das alleine schon ein sinnstiftender Wert: „I mean, it’s typical, ennit? You’re looking for that one thing to subtract out of children’s lives to make it all better. Take out the videogames, the funny music, the food coloring, kids won’t shoot each other anymore.“7

Bild 9, Vertigo Ressurected 1 (Warren Ellis, Phil Jimenez)

Und weiter geht die Predigt, mit der John Constantine das Video eines Schuljungen kommentiert, der seine Pistole auf Mitschüler richtet: „He’s drawn a gun and non of these children are running away. I see kids in a schoolyard in some dead-end hole of a town in some asshole county in some crumbling state with no education and no hope and no future and they’re waiting. They’re just standing there. Born into a life that’s already slid out of view, Looking forward to turning out just like their mommies and daddies. Life already lived for them. Life in a world mommy and daddy couldn’t be arsed to build properly, a world that makes no fucking sense. A world where kids actually go to special classes to learn to recognize real emotions and body language because they were raised by the television. They’re only kids, for christ’s sake. This is the best response they can manage to the insane fucking world they’re in. They stand there and wait for the bullet.“8 Schuld sind im Zweifelsfall eben immer die anderen und Wissenschaftler haben sowieso keine Ahnung.

Bild 10, Vertigo Resurrected 1 (Warren Ellis, Phil Jimenez)

DCs Hauptverantwortlicher Paul Levitz signalisierte, dass die Geschichte auf keinen Fall erscheinen würde, solange er bei DC etwas zu sagen hätte. Tatsächlich dauerte es nach dem Führungswechsel bei DC nicht lange, bis „Shoot“ im Anthologie-Heft Vertigo Ressurected doch noch seine späte Auswertung fand. Für Warren Ellis war es die einmalige Gelegenheit, sich als kompromisslos und visionär zu präsentieren und den DC-Verlag als bornierte Zensoren dastehen zu lassen. Mit „Shoot“ hat er sich aber ein recht zweifelhaftes Denkmal gesetzt.9

 

Hard Times, Hell and High Water – Enter Azzarello

Warren Ellis‘ Nachfolger war Brian Azzarello, ein Autor, dessen Skripts nicht weniger hart und explizit sind. Vertigo signalisierte damit deutlich, dass man auch weiterhin am provokativen Konzept festhalten wollte. Aber trotz gewisser Gemeinsamkeiten legt Azzarello seinen Constantine deutlich anders an. Während Warren Ellis in der Regel trotz allem Zynismus klar und direkt auf eine Message abzielt, ist Azzarello um einiges schwieriger.

Azzarello lässt uns die Welt durch die Augen von Schwerkriminellen und Perversen sehen, und wenn Constantine mit diesen Typen in Interaktion tritt, dann ist auch er nicht ehrlich, sondern spielt eine Rolle, deren Zweck oft undurchsichtig und unkommentiert bleibt. Eine Charakterisierung von John wird von Azzarello kaum geliefert, auch wenn er sehr stark mit Rückblenden arbeitet, die einen jungen John Constantine als Punk zeigen. In der erzählten Gegenwart geht John Constantine völlig auf in der Rolle des Trickster10, der Menschen manipuliert und sich perfekt an seine Umgebung anpasst, bis er dann doch zum geeigneten Zeitpunkt einen Zaubertrick aus dem Hut zieht und damit sein Ziel erreicht.

Auch bei Azzarello ist John Constantine von Anfang an eine geheimnisvolle Figur. Zu Beginn seiner Story rückt er in ein Gefängnis für Schwerkriminelle ein. Dort herrscht eine schwer zu durchschauende Hierarchie nach dem Gesetz des Stärkeren und es ist überlebenswichtig, sich in eine der zahlreichen Subkulturen einzugliedern, die schwarzen Gangs, die Bloods, die Crips, die Black Muslims, die Neonazis, die italienischen Mobsters, die Lebenslänglichen, die Bikers oder die Hispanics. Constantine schmeichelt sich auch alsbald bei seinem schwarzen Mithäftling ein, aber der und seine Kumpanen sind natürlich keine Freunde, und selbst kleine Gefälligkeiten müssen mit teurem Zins zurückgegeben werden. Wer bekommt schon Respekt in diesem gnadenlosen System, wenn er sich ausnützen und anschnorren lässt?

Bild 12, Hellblazer 146 (Azzarello, Corben)

Constantine gibt sich zunächst dumm und unbedarft. Er begibt sich nacheinander in die Abhängigkeit von mehreren harten Burschen, wohlwissend, dass er riskiert, vergewaltigt und fertiggemacht zu werden, wenn er seine Schulden nicht begleicht. Aber natürlich greift hier das Gesetz der Hellblazer-Reihe. Die Magie, die Constantine ausübt, bleibt irrational und unerklärt, aber sie dreht die Machtverhältnisse zugunsten des scheinbar schwachen Constantine um. Sobald das Licht ausgeht, schwindet alle scheinbare Sicherheit und der Schuldner wird zum Gläubiger, der Täter zum Opfer und der Mutige zum Feigling.

Bild 13, Hellblazer 146 (Azzarello, Corben)

Glaubwürdig oder realistisch ist die Figur Constantine bei Azzarello natürlich nicht, ganz im Gegensatz zur Umgebung, in die Azzarello seine Figuren hineinwirft, doch entwickelt sich eine recht reizvolle Spukgeschichte mit Constantine als Dämon unter Monstern. Am Ende eskaliert diese Versuchsanordnung zu einem blutigen Gefängnisaufstand und man erfährt auch einen ersten Teil der Hintergrundstory, die Constantine ins Gefängnis brachte.

Nach dieser von Richard Corben kraftvoll inszenierten Gefängnisstory startet John Constantine auf eine Reise durch Amerika. Er sucht verschiedene Stationen auf, die mit dem Milliardär S.W. Manor in Verbindung stehen, dem Mann, der John ins Gefängnis gebracht hat. Diese Reise führt ihn mitten hinein ins amerikanische Herz der Finsternis. Er kommt in das Dorf Doglick (!), dessen Bewohner nach der Wirtschaftskrise völlig verarmt sind und die nur noch durch Internetpornografie überleben können. Reihum lassen die Bewohner sich foltern und dabei filmen, um Geld zu verdienen. Eine ekelhafte und trostlose – auch hirnrissige – Vision, die uns Azzarello hier zumutet und auch Azzarellos goldener Humor schlägt hier gewaltig über die Stränge, wenn Constantine unter Drogen gesetzt und beim Sex mit einem Hund gefilmt wird.

Bild 14, Hellblazer 152 (Azzarello, Frusin)

Azzarellos nachfolgende Geschichten, inzwischen gezeichnet vom Argentinier Marcelo Frusin, haben durchaus ihren Reiz, sofern man nach „Good Intentions“ noch bereit ist, sich auf Azzarello einzulassen. Bemerkenswert ist die Episode um eine Sekte von Neonazis, die sich im Hinterland Amerikas in einer Ortschaft namens „Highwater“ für den ersehnten Ernstfall rüsten. Eine interessante Geschichte, in der die Neonazis durchaus glaubwürdig als Mischung von ehrlichen Good Old Boys und völlig durchgeknallten tickenden Zeitbomben charakterisiert werden. Und wieder enthält sich Azzarello jeglicher Stellungnahme und konfrontiert den Leser unkommentiert mit inneren Monologen voller Hass und Verblendung. Constantine tritt in dieser Gegend auf wie ein Loner im Italowestern, um seine eigene Vergangenheit mit dem Milliardär und Waffenhändler S.W. Manor aufzuarbeiten, der auch mit den Nazis skrupellos Geschäfte macht.

Bild 15, Hellblazer 165 (Azzarello, Frusin)

Die jungen Nazis töten einen von S.W. Manors Waffenvertretern, den Wolfman, aus dem schlichten Grund, weil dieser seine Maschinenpistolen auch an Schwarze verkauft und weil seine Waffen israelische Produkte sind. Aber welche Wiedergutmachung kann man S.W. Manor, dem Chef des Vertreters für diesen Mord leisten, einem Mann der alles hat, dem Menschenleben egal sind und der zudem vom Hass der Nazis profitiert? Der Milliardär stellt die Ordnung wieder her, indem er den geistigen Führer der Nazi-Sekte, der an ein von Gott gewolltes weißes Amerika glaubt, vor den Augen seiner Tochter demütigt: „I suppose I could take the proverbial eye — or eyes — and be done with this. I’m prepared to do that. But I don’t think it would feel good. And I need to feel good. I need … to cum in somenone’s mouth. Correction. Not just anybody’s … Yours, Ellison, or hers“11, womit Manor die Tochter von Ellison ansieht.

S.W. Manor ist ein Soziopath, der nur um sich selbst und seine perversen Obsessionen kreist. Es ist ein interessanter Kunstgriff, dass Azzarello auf dessen abstoßenden Auftritt das Glaubensbekenntnis eines Skinheads zu seinem hasserfüllten Weltbild folgen lässt. Durch diese Montage wird deutlich, dass gegenüber dem völligen Nihilismus Manors jeder noch so abstruse Glaube zum Wert und Anker werden kann. In der Postmoderne gibt es keine klaren Standpunkte mehr und alles ist relativ. Azzarello, den man als postmodernen Autor sehen kann, zeigt das verworrene Weltbild der Nazis als ein Glaubenssystem, das seinen Sinn ebenso erfüllt wie jede andere Ersatzreligion.

Bild 16, Hellblazer 167 (Azzarello, Frusin)

Am Ende der Geschichte macht John Constantine dann doch noch kurzen Prozess mit der Bande und rächt den Tod des Schiebers, indem er dessen Leiche reanimiert und auf die junge Mörderbande hetzt. Dabei bezeichnet John den wiederauferstandenen Waffenschieber fehlerhaft als Golem. Das klingt zwar schön jüdisch, ändert aber nichts an der Tatsache, dass es sich bei dieser Kreatur um einen ordinären amerikanischen Zombie handelt. Hier hätte Azzarello seine Hausaufgaben durchaus etwas besser machen können. Trotzdem schreibt Azzarello ambitioniert. Es ist charakteristisch für ihn, dass er den Leser zum Mitdenken herausfordert, aber manchmal schießt er über das Ziel hinaus und übertreibt es mit Gewalt und Pornografie. Dennoch überzeugt Azzarellos Run durchgehend durch seine interessante Atmosphäre und seinem Mut zum Experiment.  

Bild 17, Hellblazer 167 (Azzarello, Frusin)

 


1 „Dein Vater lutscht in der Hölle die Schwänze von Leprakranken“ – „Und? Schluckt er? Das wäre doch wirklich abartig, wenn er schlucken würde.“

2 „Ich bete Satan an.“

3 „Es muss die Pervertierung der Jungfrauengeburt sein. Das hier soll eine neue Religion werden und da dachte ich: Ein Mann, geschwängert vom Samen der Hölle, der ein Kind ausscheißt, das wäre doch passend.“ – „Aber wie?“ – „Ich habe seinen Bauch aufgeschlitzt und die Wunde gefickt.“ (!)

4 Isabels Leiche ist zwar nicht in zwei Hälften zerteilt, aber ansonsten zugerichtet wie Elizabeth Short, die berühmte Schwarze Dahlie. James Ellroy hat diesen aufsehenerregenden Mordfall der 20er Jahre in einem fiktiven Roman beschrieben.

5 Men behind the Sun handelt von der Unit 731, einer geheimen Einrichtung der japanischen Armee in der chinesischen Mandschurei, in der Menschenversuche verschiedenster Art durchgeführt wurden, die vor allem der biologischen Kriegsführung dienen sollten. Es gab Tausende Tote. Scott Snyder hat dieses Thema in American Vampire wieder aufgegriffen, als er die Einrichtung, in der die Japaner im Zweiten Weltkrieg eine neue Vampirrasse züchten wollen, Unit 732 nannte.

6 „Ich habe Ihre Aufzeichnungen gelesen, Ihre verdammte Arbeit … Sie haben nicht die leiseste Ahnung, was hier passiert, wie alle anderem in diesem verblödeten Scheißland.“

7 „Ich meine, es ist doch typisch, oder? Irgendetwas muss doch daran schuld sein, dass die Kinder sich gegenseitig erschießen. Videospiele, die komische Musik, bunte Süßigkeiten. Nehmen wir das den Kindern mal besser weg, dann wird’s schon besser werden.“

8 „Er hat die Waffe gezogen, aber keines der anderen Kinder rennt weg. Ich sehe dort Kinder in einem Pausenhof, irgendwo in einer toten, abgeschriebenen Stadt in einer Scheißgegend. Der Staat zerbröckelt, es gibt keine Erziehung, keine Hoffnung und keine Zukunft – und die Kinder warten. Sie stehen einfach nur da. In ein Leben geworfen, das ihnen jetzt schon entgleitet. Die einzige Perspektive ist, so wie ihre Eltern zu werden. Ihr Leben ist schon gelebt, ein Leben in einer Welt, um die ihre Eltern sich einen Scheiß gekümmert haben und die überhaupt keinen Sinn bietet. Eine Welt, in der Kinder in Spezialklassen gehen müssen, um mit ihren Gefühlen umgehen zu lernen und Körpersprache richtig einzusetzen, denn sie wurden ja durchs Fernsehen erzogen. Es sind nur Kinder, Herrgott noch mal. Das ist die beste Reaktion, zu der sie in der Lage sind in dieser wahnsinnigen Welt. Sie stehen da und warten auf die Kugel.“

9SHOOT To Finally Be Published“, warrenellis.com

10 „Die typischen Trickster sind oft an ihren zwiespältigen Charakteren zu erkennen, die auf der einen Seite Regeln brechen, um den Menschen Gutes zu tun, auf der anderen Seite Regeln brechen, um Konflikte (meist zwischen den Göttern) zu provozieren.“ (Wikipedia)

11 „Ein Auge für ein Auge, ich denke damit könnten wir das regeln. Dazu wäre ich in der Lage. Aber würde es sich gut anfühlen? Und jetzt brauche ich gute Gefühle. Dein Mund, Ellison, wird mich jetzt gleich befriedigen. Deiner … oder ihrer!“

 

 

Zu Teil 1: Die Anfänge in Swamp Thing

Zu Teil 2: Die ersten Hellblazer-Hefte von Jamie Delano

Zu Teil 3: Die Garth-Ennis-Jahre

Zu Teil 4: Die Paul-Jenkins-Jahre

 

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