Die Figuren der antiken griechischen Sagenwelt sind schon vielfach Inspiration für gelungene Comics gewesen. Neil Gaimans beachtliche Einbettung des Orpheus-Mythos in seine Reihe Sandman fällt einem ein, Peter Milligans glücklose Vertigo-Serie Greek Street oder die unterhaltsamen Alben Tiresias und Hera zum Ruhm von Le Tendre und Rossi, die nah am Sagenstoff, aber doch unterhaltsam mit Schwung und Witz direkt ins Herz des Lesers zielen.
Der Künstler Burkhard Pfister, Jahrgang 1949, dürfte es mit seiner Graphic Novel Die Atriden deutlich schwerer haben, das Comicpublikum zu begeistern. Wie ein Bildhauer hat er aus dem ausufernden Sagenstoff einen Bilderbogen gezimmert, der mit Comic nicht allzuviel zu tun hat. Pfister weiß selbst am besten, dass er kein Comiczeichner ist und nähert sich dem Stoff über eine von den Göttern verfluchte Heroenfamilie mit großflächigen, schwarzweiß schraffierten Bildtafeln an. Er selbst bezeichnet seine Werke als grafische Inszenierungen.
Texte und Bilder reduzieren das Material auf das bloße Handlungsgerüst. Der Text stellt wirklich nur die allernötigste Verbindung zwischen den Bildern her, so dass die Illustrationen möglichst unverstellt zur Wirkung kommen. Burkhard Pfister hat die Welt der Götter dabei an moderne Architektur angelehnt – Konzernarchitektur, wie im Nachwort zu lesen ist. Warum aber diese Modernisierung? Ist das wirklich die geeignete Darstellung, um die Allgemeingültigkeit und nie schwindende Aktualität dieser uralten, mythischen Stoffe zu unterstreichen?
Am Anfang steht der von den Göttern geschätzte Herrscher Tantalos, der die Allwissenheit der Götter prüfen möchte, indem er ihnen das Fleisch seines Sohnes Pelops als Festmahl serviert. Als der Frevel auffliegt, wird Tantalos zu Höllenqualen verdammt und das Geschlecht der Atriden verflucht. Der geschlachtete Sohn Pelops wird zwar wiederhergestellt, aber die Familie wird mit dieser Vorgeschichte keine normale mehr sein können. Ab sofort werden Mord, Verrat und Inzest an der Tagesordnung sein.
Was aber bringt die Modernisierung der Darstellung an Erkenntnisgewinn? Verleiht es der Geschichte Aktualität, wenn es Schlipsträger sind, die den Jungen verspeisen? Oder erschwert diese Modernisierung nicht den Zugang vielmehr, wenn diese archaischen Motive plötzlich mit verfremdender Bildsprache präsentiert werden? Warum muss ein Streitwagen durch einen modernen Rennschlitten ersetzt werden und warum fliegen die Götter mit Flugzeugen? Und warum werden die gewalttätigen Söhne des Pelops mit den Kapuzenpullis halbstarker Schläger gezeichnet?
Im Anhang des Buches wird von der Historikerin Ursula Broicher, mit der Burkhard Pfister auch zusammenarbeitet, eine Erklärung für die gewählte Ästhetik geliefert: „Warum tun sie, was sie tun? Weil sie mächtig sind, weil ihnen Skrupel fremd sind, weil niemand sie aufhält und ihnen keine Grenzen gesetzt werden. So ist das immer und heute mit den Mächtigen. Das ist eine Überzeugung, die Burkhard Pfister dazu gebracht hat, dieses Grauen ins Bild zu setzen. Die Bilder reflektieren diese dunkle und zutiefst verstörende Realität. Warum also nicht eine Konzernarchitektur, schnelle Autos und Männer und Frauen in der ‚Verkleidung‘ heutiger Macher, Spieler, Entscheider und Zerstörer wählen?”
Den Ansatz kennt man auch von zeitgenössischen Theaterinszenierungen, und er ist inzwischen einigermaßen totgeritten worden. Am Ende, wenn am Vorabend des Trojanischen Kriegs der „Bündnisfall” ausgerufen wird, erreicht die Modernisierung dann auch noch die textliche Ebene, was leicht ironisch wirkt, aber wohl kaum so gemeint ist. Letztlich ist diese Modernisierung mit dem Holzhammer aber durchaus plausibel, denn ebenso irrational wie das Wirken der Helden und Götter sind eben nach wie vor auch oft die modernen Umstände, die uns – intelligente, scheinbar rational denkende Menschen – nach wie vor sehenden Auges ins Unglück steuern lassen. Die Bilder der Antike sind (leider) nach wie vor eine verlässliche Landkarte für das menschliche Verhalten – auch wenn Bilder von Kannibalismus und göttliche Zaubereien natürlich metaphorisch verstanden werden müssen.
Die Lektüre von Die Atriden kann einen leicht überfordern, deshalb habe ich parallel dazu Edmund Jacobys und Kat Menschiks Sagen des Altertums – Das Hausbuch der griechischen Sagen gelesen. Das war eine hilfreiche Unterstützung, denn das Hausbuch ist nicht nur herrlich illustriert, sondern bietet eine verlässliche Orientierungshilfe. Gerade bei den Ursprüngen der Atriden war es aber äußerst uneindeutig und vage, so dass hier wiederum Burkhard Pfisters Buch äußerst hilfreich war, das Mosaik zu ergänzen. Pfister selbst verwendete als Quellenmaterial Karl Kerenyis Die Mythologie der Griechen, was freilich eine ganz andere Hausnummer ist, als das lesefreundliche Hausbuch. Gustav Schwabs Sagen des klassischen Altertums sind sicherlich ebenfalls gut zur begleitenden Lektüre geeignet.
Befragt zu seiner ersten Graphic Novel Gilgamesch hat Burkhard Pfister der ComicRadioShow 2011 erklärt: „Je tiefer man in den übersetzten Originaltext geht, den man übrigens immer auch mit einem Kommentar lesen sollte, um so mehr Bilder entstehen und werden auch notwendig.” Das gilt natürlich ebenso für seine Atriden. Ohne Vorkenntnisse bzw. Begleitmaterial ist Burkhard Pfisters Erzählung zu fragmentarisch, um völlig begeistern zu können. Aber seine Herangehensweise ist durchdacht, sie bringt Ordnung in das Dickicht der Vorlage und setzt die Akzente an den richtigen Stellen. Die Bilder sind durchgehend wuchtig und beeindruckend und die Modernisierung ist trotz aller Deutlichkeit mit Augenmaß betrieben. Bei der Darstellung von Tieren, nackten Körpern, Waffen, vielen Kostümen und Landschaften hat er sich glücklicherweise für eine zeitlose Bildsprache entschieden, die außerhalb des modernen Kontexts steht und teilweise wirklich ein Fest fürs Auge ist.
Wertung:
Kein Comic, aber ein überzeugender Bilderbogen über einen besonders düsteren Zyklus der griechischen Mythologie.
Die Atriden
Projekte Verlag Cornelius, Mai 2013
Text und Zeichnungen: Burkhard Pfister
Mit einem Nachwort von Ursula Broicher
216 Seiten, schwarz-weiß, Hardcover,
Preis: 29,50 €
ISBN: 978-3954863778
Abbildungen: © Burkhard Pfister