Joann Sfar ist schon ein Phänomen. 1993 stieß er zur Ateliergemeinschaft Nawak, deren Mitglieder mittlerweile alle Stars geworden sind, 1994 wurden seine ersten Arbeiten veröffentlicht. Da war er gerade mal 23 Jahre alt und innerhalb von 19 Jahren hat er eine so ungeheure Schaffenskraft bewiesen, dass man vor Staunen nicht mehr aus dem Kopfschütteln heraus kommt. Allein beim Avant-Verlag sind schon 22 Bände auf Deutsch erschienen, und darin ist noch nicht einmal die Monumentalserie Donjon enthalten oder Comics wie Sokrates der Halbhund und etliche andere. Und was angesichts dieser Fülle am Erstaunlichsten ist: Die Qualität seines Outputs ist immer hoch, auch wenn sich manche inhaltlichen Aspekte gelegentlich wiederholen. Aber wer die Werke mag, wird sich daran erfreuen.
Bei dem Titel Chagall in Russland denkt natürlich fast jeder sofort an eine Künstlerbiographie, was im Œuvre von Joann Sfar schon etwas überraschen würde. So ist es dann auch wenig verwunderlich, dass sich der Comic nicht als Biographie entpuppt, sondern eher die Wurzeln des künstlerischen Schaffens von Marc Chagall auslotet und das jüdische Leben in der russischen Provinz zu Zeiten des Bürgerkriegs schildert. Damit liegt dieser neue Wurf ganz in der Tradition der hervorragenden Sfar-Serien Die Katze des Rabbiners und Klezmer. Hier wie dort werden jüdische Traditionen und Eigenarten beleuchtet.
Chagall ist ein junger Mann, der nur an zwei Dingen Interesse hat: seine Malerei und die Frau seiner Träume, die er heiraten will. Doch deren Vater, Herr Tewje, möchte einen solideren Mann für seine Tochter. Um die Familie und seine Angebetete zu beeindrucken, macht sich Chagall daran, ein jüdisches Theater aufzubauen. Soweit ist der eigentliche inhaltliche Aufhänger arg überschaubar und man bekommt kaum Informationen über das Leben Chagalls. Fans des expressionistischen Malers könnte das enttäuschen.
Stattdessen machen eher die vielen Begegnungen und die künstlerischen Anspielungen den Reiz der Erzählung aus. Direkt auf der ersten Seite trifft Chagall einen Verrückten, der behauptet, Jesus Christus zu sein, und sich dementsprechend Anfeindungen von allen Seiten ausgesetzt sieht. Ein großer starker Mann, Tam, erinnert ihn an den Golem und nimmt an seinen weiteren Abenteuern teil. Denn Kosaken machen die Gegend unsicher, sie morden, plündern, vergewaltigen und führen generell Pogrome durch. Doch ausgerechnet diese Kosaken und andere zwielichtige Gestalten gewinnt Chagall als Mitwirkende für sein Theater.
Man sieht schon: Eine Biographie ist das nicht, da nur zwei Stationen des Lebens von Chagall abgehakt werden: die erste große, inspirierende Liebe und die Bildung des jüdischen Theaters. Stattdessen legt Sfar den Fokus auf andere Aspekte: prägende Situationen in einem jungen Leben voller Bürgerkrieg, Gewalt, Antisemitismus und Pogromen. Angesichts des Schreckens und der Absurdität der Gewalt bleibt einem Künstler wohl kaum ein anderer Weg zum Ausdruck als der Expressionismus (wie sich diese Kunstrichtung ja generell erst nach Ende des Ersten Weltkrieges etablierte, weil sich die meisten Schaffenden aufgrund der erlebten Gräuel außerstande sahen, figürlich zu arbeiten). Auch Sfar selbst beschreitet diesen Weg gerne, und hier wird es richtig passend.
Sfar zitiert nicht nur Chagall direkt in einigen Panels, sondern auch andere kulturelle Einflüsse. Manchmal stellt er Gebäude stark expressionistisch dar und erinnert damit sehr an den Stummfilm Der Golem mit Paul Wegener oder an den gleichnamigen Roman von Gustav Meyrink, ein Beispiel par excellence für literarischen Expressionismus. Was auch eine Hommage an die jüdische Kultur und Tradition ist. Und zwar doppelt in einem Werk: hier wird nicht nur ein jüdischer Künstler und seine Lebenswelt porträtiert, sondern auch die Einflüsse von Tradition und Kultur.
Chagall in Russland will nicht den Lebensweg des Künstlers nachzeichnen, sondern seinem Ansporn auf die Spur kommen, und das gelingt Sfar außergewöhnlich gut. Der Einblick in das träumerische Herz eines Künstlers und seine Leidenschaft für die Malerei überzeugt. Da kommen durchaus auch unangenehme Eigenschaften mit zum Tragen, zum Beispiel wenn Chagall alles andere seinem Schaffen unterordnet, was gegen Ende gar zur Katastrophe führt.
Somit ist diese vermeintliche Biografie ein wilder Ritt: Drama, Sittengemälde, Historienstück, Hommage an jüdische Traditionen, Expressionismus in der Gestaltung als Zitat und Ausdrucksform, Tragödie, Liebesgeschichte, Komödie, Satire, Brutalität, Sinnlichkeit, und und und. All das ist hier zu finden und macht Chagall in Russland wieder zu einem kleinen Meisterwerk von Sfar.
Am Ende bleibt eine pessimistische Note, wenn im Scheitern Chagalls behauptet wird, dass die Kunst das Leben nicht zu verändern vermag und auch die Herzen nicht immer gewinnt. Aber die Leidenschaft überwiegt und überzeugt auch bei Sfar. Einige komische inhaltliche Sprünge hinterlassen bisweilen den Eindruck, dass ein paar Seiten vertauscht worden sein könnten, aber der Comic bleibt durchweg faszinierend. An Sfar kommt keiner vorbei.
Wertung:
Ein neues Meisterwerk des Ausnahmekünstlers Joann Sfar, welches die vielfältigsten Aspekte bündelt und vor Ideen und Anspielungen nur so strotzt.
Chagall in Russland
Avant-Verlag, Dezember 2012
Text und Zeichnungen: Joann Sfar
Übersetzung: Lorenz Hatt
128 Seiten, farbig, Softcover
Preis: 19,95 Euro
ISBN: 978-3-939080-73-2
Leseprobe
Abbildungen: © der dt. Ausgabe: Avant-Verlag