DOPPELREZENSION
Rezension von Frauke:
Es scheint eine Art Gesetz zu sein, dass es auf jeder Comicmesse einige unerwartete Publikumsrenner gibt, die niemand auf dem Radar hatte. Auf dem diesjährigen Comic-Salon waren dies z. B. Red Button Boy und eben RIA. Zwar machte kurz vor dem Comic-Salon ein sehr professionell wirkendes Teaser-Video die Runde, aber mit einem solchen Ansturm hatte wohl auch das Team rund um Zeichner Thorsten Kiecker nicht gerechnet. Ihren Stand, der unter dem Verlagsnamen Stenarts lief, habe ich nicht einmal ohne Publikum davor gesehen. Dafür sorgte neben dem Comic sicherlich auch der gut aufgemachte Stand (siehe ihr Projektblog) mit großflächigen Bannern, Computern – mit denen man sich das Augmented-Reality-Feature (dazu später mehr) zeigen lassen konnte – und last, but not least die Personifizierung ihrer Hauptfigur Ria (s. Foto links unten), welche man zuerst als Cosplayerin verortete, die aber fleißig Werbung machte.
Was ist also dran an diesem ersten Band aus den angedachten vierbändigen Lichtclan-Chroniken? Zuerst mal die fantastischen, dem Zeichentrick verbundenen Zeichnungen von Thorsten Kiecker, bei denen die Figuren in detaillierte, offensichtlich mit viel Liebe und gekonnten Farbe gestalteten Hintergründe platziert wurden. Allerdings kommen einem bei manchen der Helden direkt Assoziationen: Der weise Erfinder Uri ähnelt dem Zauberer Merlin aus Die Hexe und der Zauberer, und Ria erinnerte mich aufgrund ihrer maskenähnlichen Gesichtszeichnung sofort an Pixars Die Unglaublichen.
Dieser Wiedererkennungseffekt beschränkt sich nicht auf das Aussehen einiger Protagonisten. Auch die rasante Handlung wirkt in großen Teilen wie ein Versatzstück aus Film- und Computerspielmotiven. Der junge Krieger Loan, Letzter seiner Art, erweckt durch Zufall die Tochter der verstorbenen Königin Sira und befreit sie aus ihrem Schutzkokon, in dem sie sich Zeit ihres Lebens befand. Sie kann nicht reden und weiß offensichtlich nichts von der Welt. Loan nimmt sie mit in seine Gemeinschaft, deren Anführer, der ältere Uri, sie schnell als Ria und damit als die letzte Hoffnung erkennt, ihre Welt vom bösen Noctus und seinen Schergen, den Shadens, zu befreien. In einer Erweckungszeremonie erhält sie von ihrer Mutter das Wissen um sieben Fragmente, die gefunden werden müssen, um Noctus für immer zu verbannen.
So weit, so simpel. Dass der Comic sehr viel Wert auf die Grafik legt, sieht man dem schönen Bonusmaterial an, in dem die Entwicklungen der Hauptfiguren und des Fluggerätes vorgestellt werden. Dort findet man auch vier Symbole für ein ungewöhnliches Extra, die Augmented Reality (augmented = vergrößert). Dahinter verbirgt sich die Möglichkeit, ein Abbild der Wirklichkeit mit künstlichen Objekten zu überlagern bzw. diese Objekte in das Bild hinein zu bringen. Es entsteht also eine Mischung zwischen Realität und Schein. In diesem Fall benötigt man eine Webcam und ein Plugin, das man installieren muss. Und „schon“ (mich hat’s mit Webcam installieren, Plugin herunterladen/installieren und diversen Browserabstürzen etwa eine Stunde gekostet) erhält man eine oder mehrere dreimensionale, sich leicht bewegende Figuren in die live von der Webcam gefilmte Ausgabe des Comics, die man sich – je nach Winkel der Kamera – in allen Perspektiven anschauen konnte. Eigene Aufnahmen:
Ein lustiges und interessantes – weil neuartiges – Goodie, das aber für den Comic keinen wirklichen Mehrwert hat. Da wäre mehr Zeit für die Ausarbeitung einer Story besser investiert gewesen.
Überraschend ist die Menge an Personen, die am Projekt mitgewirkt haben – von Zeichner und Autoren bis hin zu Farbassistenz sind es allein 21 Künstler beim Comic selber, dazu kommen noch ein Musiker (Website) und die Leute vom Augmented-Reality-Feature. Auch sprachlich geht RIA einen ungewöhnlichen Weg: Der – dank Muttersprachler gut gesprochene – Trailer lässt es schon erahnen, der Comic ist international ausgelegt. Er wurde ursprünglich auf Englisch angefertigt und dann ins Deutsche übersetzt (wobei die englische Version noch nicht erhältlich ist). Diese wirkt größtenteils gelungen, auch wenn ein Korrektorat (besonders in Bezug auf Zeichensetzung) dem Lesefluss zuweilen gut getan hätte.
Ein weiter Kritikpunkt für mich ist der Druck. Der Digitaldruck auf glänzendem Papier lässt die Farben extrem leuchten, mitunter wird man fast erschlagen von der Farbgewalt. Der Glanz stört die Lesbarkeit, und die Genauigkeit des Strichs scheint unter dem Druck gelitten zu haben; so wirken manche Linien leicht verschwommen.
Das Stenarts-Team hätte sich mit diesem optisch opulenten Projekt grafisch nicht besser empfehlen können, für einen guten Comic braucht es allerdings noch eine interessante Geschichte.
Gastrezension von Zeichner Geier:
Die Überraschung beim Comic-Salon war RIA Die Lichtclan-Chroniken. Da taucht aus dem Nichts ein Album auf, das einen erstmal umhaut und begeistert. Stilistisch erinnert es an einen Trickfilm; aufwendige, gemalte Hintergründe und Figuren in einem klaren Strich ohne Schraffuren oder Schwarzflächen. Die Panels sind bis ins Detail liebevoll ausgezeichnet, eine tolle Farbgebung und pointiert eingesetzte Computereffekte. Höchstes zeichnerisches Niveau, das an Barbucci erinnert, begeistert und zum Spontankauf verleitet. Freudig beginnt man zu lesen – und ist schnell ernüchtert. RIA ist, wie Camerons Avatar, optisch grandios – mit einer Story zum Weglaufen. Figuren und Handlung sind aus dem Baukasten nach Schema F konstruiert, man weiß jederzeit, was geschehen wird. Ohne die Bilder wäre RIA leider völlig belanglos und uninteressant, Schade, das hätte nicht sein müssen.
Da ist der junge, ungestüme Krieger, dessen Eltern (Überraschung!) von den Schergen des Bösewichts ermordet wurden und in Son Goku sein unübersehbares Vorbild hat. Der weise Alte und Vaterersatz, der ein Geheimnis hütet, der drollige Bürgermeister und natürlich zwei lustige Sidekicks. Der ehedem verbannte Schurke ist mit seinen grausamen Kriegerhorden zurückgekehrt und droht, wieder mal alles zu erobern. Wozu ist egal, Bösewichte machen sowas nun mal. Nur ein Mädchen, das erstmal nichts von seiner Bestimmung weiß, kann die Welt vor dem Untergang retten – und zufällig stolpert der Held über sie. Der Schurke bekommt das natürlich mit und so machen sich die Gefährten auf den Weg ins Abenteuer…
Das kennt man alles zur Genüge und Überdruss. Die Figuren sind Standards und die Handlung eine schon tausendmal gesehene und gelesene „Quest“-Geschichte, die schablonenhaft Punkt für Punkt jedes Klischee abarbeitet. Lediglich ein putziges Tier als Begleiterin des Mädchens fehlt (noch). Sowas ist alles mögliche, aber nicht im Ansatz originell. Völlig unverständlich, dass diese platte Story akzeptiert wurde, als Roman hätte RIA sicher keinen Verlag gefunden, so ausgelutscht ist die Handlung. Die einzige Erklärung: Thorsten Kieker, Chef und Zeichner hatte die „Idee“ zu RIA. Da kann man wie bei Uderzo nur sagen: Schuster, bleib bei deinen Leisten! Ein guter Zeichner ist nicht zwangsläufig auch ein guter Autor.
Aber vielleicht hat man auf eine neue Story auch gar keinen Wert gelegt, sondern lediglich eine Rahmenhandlung als Plattform benötigt um mit der Grafik auftrumpfen zu können. Das Produkt RIA ist eindeutig international angelegt, möglich, dass – um möglichst viele potenzielle Kunden anzusprechen – bei der Handlung auf Experimente zu Gunsten bewährter Storylines verzichtet wurde. Bezeichnend, dass für das Artwork 19 Leute zuständig waren, bei der Story dagegen nur ein Autorenpaar und der Chef genannt werden.
Dass RIA ein rein visuelles Projekt ist und die Story lediglich notwendige Nebensache, zeigt auch der Anhang: ein umfangreiches Making-Of, wie man es sonst nur bei Trickfilmen sieht. Da wird die Entwicklung der Figuren und Settings dokumentiert, ein 3-D-Gimmick, das technisch sicher anspruchsvoll und innovativ ist, hervorgehoben, aber praktisch kein Wort über die Story verloren. Dafür ist zeitgleich zum Album zusätzlich ein Artbook erschienen. Und als wäre das nicht genug, wird als nächstes noch ein Artbook mit zwei Kurzgeschichen angekündigt und nicht etwa die Fortsetzung von RIA.
Insgesamt ein ambitioniertes Projekt, grafisch in der Championsleague mit einer Story aus der Kreisliga. Ärgerlich, weil man bei einem Comic nicht nur Bilder anschauen, sondern auch bei der Handlung mitfiebern und überrascht werden möchte, was bei RIA dank der uninspirierten Figuren und Story schlicht nicht möglich ist. Augenfutter, das nach dem Lesen einen schalen Nachgeschmack hinterlässt.
RIA Die Lichtclan-Chroniken – Same der Hoffnung
stenarts, Juni 2010
Text: Fred Pullin, Mary Pullin, Thorsten Kiecker
Zeichnungen: Thorsten Kiecker + Assistenten
Farben: Fabian Schlaga + Assistenten
Softcover, sehr farbig, 64 Seiten; 12,50 Euro
ISBN: 978-3000315169
Website zum Projekt: lightclan-chronicles.com
Teaservideo
Abbildungen © stenarts