Sein Lebenslauf klingt wie der Traum eines jeden Popkultur-Nerds: Jean-Christophe Derrien hat sein Studium mit einer Arbeit über Twin Peaks abgeschlossen, war Fanzine-Chefredakteur und Drehbuchautor für Zeichentrickadaptionen von Comic-Klassikern wie Blake und Mortimer oder Spirou und Fantasio. Heute arbeitet er als Filmkritiker und als Szenarist für seine eigenen Comics. Einer davon ist die zweiteilige Albenreihe Miss Endicott, die in Frankreich 2007 erschien und nun beim Piredda Verlag auf Deutsch herauskommt.
Etwas bekannter als Autor Derrien dürfte hier jedoch der Zeichner sein: Von Xavier Fourquemin liegt, ebenfalls bei Piredda, bereits Die Legende vom Changeling vor. Und tatsächlich liegen beide Serien, was Setting und Stimmung betrifft, recht nah beieinander. Ebenso wie Changeling spielt auch Miss Endicott im London des vorletzen Jahrhunderts, und beide Serien reichern ihren realistischen historischen Hintergrund mit mehr oder weniger dezent eingesetzten Fantasy-Elementen an.
Die Hauptfigur, die diesem Comic den Namen gab, ist eine junge Frau, die ein Doppelleben führt: Tagsüber arbeitet sie bei einer reichen Familie als Kindermächen, doch richtig interessant wird es erst nachts – dann ist Patricia Endicott die „Schlichterin“. Als eine Art Ombudsfrau kümmert sie sich um die Probleme der armen Leute, und von denen gibt es nicht wenige in London. Der Comic beginnt mit ihrem ersten Arbeitstag – zuvor war ihre verstorbene Mutter als Schlichterin tätig. Patricia, die zuvor längere Zeit in Indien verbracht hatte, kehrte nach London zurück, um ihre Nachfolge anzutreten.
Der Leser begleitet die junge Frau dabei, sich in ihrem neuen Leben und mit ihren neuen Aufgaben zurechtzufinden. Dabei bekommt sie es nicht nur mit trinkfesten Zechern und einem sehr aufdringlichen Verehrer zu tun, sondern auch mit einem kleinen Männchen, das unter der Erde lebt. Es gehört zu den „Vergessenen“, einem von der Gesellschaft ausgegrenzten Volk, das in einem unterirdischen Höhlensystem haust. Miss Endicott beschließt, diese entlegene Welt zu erkunden und erfährt, dass die Vergessenen eine große Revolution planen und zu diesem Zweck eine gigantische Dampfmaschine gebaut haben. Bald wird ihr klar, dass sie sich in große Gefahr begeben hat.
Jean-Christophe Derrien erzählt eine recht klassische Abenteuergeschichte, angereichert mit ein bisschen Fantasy und etwas Steampunk. An Reiz gewinnt die Story durch ihre Protagonistin, eine starke und selbstbewusste junge Frau, freundlich, liebenswürdig und gewitzt, aber im Ernstfall auch sehr wehrhaft, denn sie verfügt über ausgefeilte Kampfkünste und wirkt wie eine Mischung aus Mary Poppins und Mina Murray aus Alan Moores League of Extraordinary Gentlemen. Allerdings würde man gerne noch erfahren, wie Miss Endicott zu ihren ungewöhnlichen Fähigkeiten gelangte und was sie bei ihrem Aufenthalt in Indien, der mehrfach angedeutet wird, erlebt hat.
Es ist letztendlich das Artwork von Xavier Fourquemin, das Miss Endicott über durchschnittliche Genre-Kost hinaushebt. Sein schwungvoller Strich, seine ausdrucksstarken Figuren mit ihren verschrobenen Gesichtern, seine Stadtansichten voller windschiefer Häuser schaffen, noch unterstützt durch die sehr gelungene Kolorierung, eine märchenhafte Atmosphäre, die einen ganz eigenen Charme verströmt und es schafft, den Leser in ihren Bann zu ziehen. Dass der Band mit 80 Seiten fast doppelt so dick ist wie ein reguläres frankobelgisches Album, tut der Geschichte sehr gut; so haben Derrien und Fourquemin genügend Raum, um ihre Story ohne Hektik aufzubauen, ehe sie mit einem dramatischen Höhepunkt endet. Auf die Auflösung des Cliffhangers braucht man indes nicht mehr lange zu warten, denn schon in wenigen Tagen erscheint der zweite und abschließende Band.
Miss Endicott 1: Die Vergessenen
Piredda Verlag, September 2009
Text: Jean-Christophe Derrien
Zeichnungen: Xavier Fourquemin
Hardcover; 80 Seiten; farbig; 19,50 Euro
ISBN: 978-3-941279-32-2
Abbildungen: © Piredda Verlag