Zum 25. Jubiläum feiert die Reddition, Deutschlands Zeitschrift für Graphische Literatur, sich selbst und das Medium „Comic“ mit einer fast hundert Seiten starken Doppelausgabe (Band 49 und 50) und dem Titelthema „Comics und Literatur“. Seit 1984 liefert dieses ambitionierte Projekt ausführliche Porträts und Dossiers über europäische, amerikanische und auch japanische Comics und deren Künstler. Dabei lag der Schwerpunkt der Publikation stets auf der exakt aufgearbeiteten Präsentation von historischen Fakten über Comics, interessanten Hintergrundinformationen über Künstler und original Bildmaterial der entsprechenden Publikationen. Zum Jubiläum versuchte man in gewohnter Qualität nachzulegen und auch endlich dem Untertitel der Zeitschrift für Graphische Literatur mehr Aufmerksamkeit zu schenken.
Das Cover der Ausgabe schmückt eine wunderschöne Bildcollage aus Werken der Weltliteratur, die mit neuem Design aus der Feder von bekannten Comic-Künstlern versehen wurden. Wie aber ein altes Sprichwort belegt, sollte man ein Buch nie nach seinem Cover beurteilen. Aus diesem Grund beginne ich mit meiner Besprechung lieber am Ende: „Der Mörder ist der Gärtner.“ Im Gegensatz zu diesem bekannten Gestus aus einem der beliebtesten Literaturgenres, dem Krimi, verrät man bei dieser Art der Besprechung aber keine wichtigen Details im Voraus; die Spannung bleibt also bestehen. Und dennoch führt diese umgekehrte Herangehensweise zu interessanten Innenansichten. Während uns das Cover einlädt, die Spannung zwischen Literatur und Comics genauer unter die Lupe zu nehmen, wirbt das Backcover für „Aus-Gezeichnete Geschichten!“ aus dem Hause Carlsen. Fein säuberlich hat diese Werbung selbst auch den Stempel Graphic Novel aufgedrückt bekommen, ein Stempel, der auch von den Autoren dieser Ausgabe immer wieder benutzt wird, ohne dabei die wirklich Frage zu stellen, warum so ein Stempel überhaupt gebraucht wird.
Von hinten nach vorne gelesen
So beginnt der letzte Artikel in der Reddition von Stephan Ditschke gleich mit der unmissverständlichen Überschrift „Comics als Literatur“ und einem Diskurs über die Rechtfertigung von Comicrezensionen im Fuilleton aufgrund der Literarizität des Mediums. Während Ditschke sich zu Beginn nicht einmal die Frage stellt, ob wirklich irgendjemand möchte, dass Comics Literatur sind, lässt er lieber die Redakteure zu Wort kommen – und zwar in 53 Fußnoten auf sieben Seiten. Es wird erläutert, wie überregionale Zeitungen, Comics, diese „hybride, intermediale Kunstform“, mittels ihrer Nähe zur Literatur als Anschauungsobjekt rechtfertigen: Es reicht aber nicht aus, dass Journalisten „Comics als Literatur“ bezeichnen oder über sie „in ähnlicher Weise wie über Literatur“ schreiben. Auch die Einbeziehung von literarischen Themen in Comics klärt die Frage nicht und führt zu weiteren Verwirrungen. Und den Titel der FAZ-Reihe Klassiker der Comic-Literatur als Positionierung zu verwenden, überzeugt auch nicht. Diese Art der Argumentation läuft im Englischen unter der Bezeichnung „Begging the question“, sprich dass die Wahrheit einer Behauptung in der Argumentation bereits als Wahrheit angenommen wird. So kommen die werten Herren Feuilletonisten dann auch zu folgendem Ergebnis: „Als Graphic Novel sind Comics Kunst geworden.“ Eine etwas kritischere Bewertung dieser Vorgehensweise wäre hier seitens des Autors ratsam gewesen, da er doch selbst einsieht, dass es sich bei Comics um ein „erzählendes Medium handelt“.
Besser im Einklang mit der sonstigen Arbeit der Reddition verhält es sich mit Stefan Semels Text „Reportage und Comic“. So stellt er anhand vieler gut recherchierter Beispiele von Joe Saccos Werke oder deutschen Versuchen die Comicreportage als Genre im Comic dar. Aber er geht eben noch weiter als seine Kollegen, in dem die Vor- und Nachteile dieser Form näher beleuchtet werden, die dem Comic-Künstler im Gegensatz zum Fotografen oder dem Journalisten ganz andere Möglichkeiten bieten. Auch der Aufsatz „Literarische Wahlverwandtschaften“, in dem Klaus Schikowski und Constanze Döring über literarische Wirkungsweise von Bechdels Fun Home (Abb. rechts) referieren, verbindet die klaren Konturen des Comics mit der Berücksichtigung der literarischen Vorlagen, die mit ihm verwoben sind.
Die Highlights der Reddition
Die beiden folgenden Aufsätze „Erzählen im Zwielicht“ (Clemens Heydenreich über Comic-Anleihen in der Literatur) und „Mehr als Graphische Romane: Comics!“ (Ole Frahms Anmerkungen zu einem Missverständnis) gehören zu den Highlights der Reddition-Ausgabe. Gerade weil die beiden Autoren es sich nicht einfach machen und mit festgesetzten Größen – wie eben der Graphic Novel – arbeiten, sondern sich der Materie unschuldig und dennoch präzise annähern. Eine besser informierte Auseinandersetzung mit der Graphic Novel als die von Frahm gibt es bis dato noch nicht:
“Graphic Novel, gewiss ein weiterer schöner Anglizismus in der deutschen Sprache, bleibt ein eher hilfloser Versuch, Comics aus dem pragmatischen sozio-ökonomischen Kontext ihrer Entstehung zu lösen. Gerade dieser Kontext aber birgt eine Wahrheit unserer Gesellschaft und ihrer Geschichte, in der die Zeit aus den Fugen geraten ist und die mit der Romanform kaum etwas verbindet. In Comics wie Grabenkrieg und Maus artikuliert sich diese Wahrheit auf der Oberfläche ihrer Zeichen.“
Ein Kessel Buntes
Von den drei enthaltenen Interviews empfehlen sich nur die ausführlichen Unterhaltungen mit Isabel Kreitz und Reinhard Kleist über ihre aktuellen Comic-Projekte. Die beiden größeren Gesprächsrunden überzeugen zwar, wie die gesamte Jubiläumsausgabe, durch schöne Reproduktionen der Comics, dafür aber weniger durch ihre Dialoge. Teilweise sprunghaft wirken die Dialoge zwischen den einzelnen Diskutanten. Hier ist doch die Audio-Variante, der Podcast des Comic-Kabinetts, mit ähnlicher Besetzung vorzuziehen.
Leider bleiben viele der anderen Artikel nur an der Oberfläche der betrachteten Objekte. So spricht der Titel von Bernd Weckwerts Übersicht „Shakespeare potpourri“ geradezu Bände. Viel reduzierter hätte auch ich diesen zwölfseitigen Artikel, der nur verschiedene intertextuelle Anspielungen zu Shakespeare in Comics verfolgt, auch nicht zusammenfassen können. Eine ähnliche Bestandaufnahme findet bei Bernd Hinrichs „Comicfiguren in der Belletristik“ statt. Hinrichs schafft es im direkten Vergleich mit Heydenreich nicht überzeugend die Comic-Originale in Umberto Ecos Die geheimnisvolle Flamme der Königin Loana zu erläutern. Mit „Bloody Pulps & Four Color“ gelingt es Matthias Preuss, eine Epoche vor den Comics zu beleuchten, der bisher nur relativ wenig Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Eine schön recherchierte Zusammenfassung über die pulp magazines, zu der man nur noch das Vorgängermodell, die dime novel, und die Übergänge zum ersten Comic mehr hätte hervorheben können. Auch Jens R. Nielsen und Hannes Grote bleiben bei ihrer Beschreibung von Hugo Pratts Südseeballade hinter ihren Möglichkeiten. Eine schön illustrierte Zusammenfassung, die aber nicht zum Kern von Corto Maltese vordringen kann (hier sei Herbert Heinzelmanns Besprechung von der Südseeballade in dem aktuellen Sonderband der Text+Kritik wärmstens ans Herz gelegt).
An Anfang der Reddition angelangt findet man endlich zwei Artikel, die wieder wirklich in die Tiefe gehen. Sie versuchen in keiner Art und Weise, den Comic oberflächlich auf das Podest „Graphic Novel“ zu heben, sondern beschreiben ganz kühl und gelassen, was sie sehen. Der Effekt dieser Herangehensweise überzeugt einfach durch eine kurze Vorstellung des Vorhabens und der exakten Ausführung der Analyse und der Interpretation. Die beiden gemeinten Artikel sind Andreas Platthaus' Beschreibung zu Line Hovens Liebe schaut weg und Hannes Grotes „Literarische Techniken in der Sprache der Comics“. Wie in einem Comic greifen hier Bilder und Text direkt ineinander, ergänzen sich und lassen auch Lücken zur eigenen Erforschung offen. So präsentiert Grote eine Szene aus Breccias Adaption von Poes The Tell Tale Heart (Abb. links) und gibt dem Leser zu verstehen, dass er die „Detailanalyse“ nicht übernehmen wird.
Der Mörder ist nicht die Graphic Novel!
Nach dieser rückwärts gerichteten Leserichtung hat sich der Leser der Reddition das wirklich schöne Cover nun aber redlich verdient. Es gelingt der Reddition – an manchen Stellen doch wohl er unabsichtlich – zu zeigen, dass es zwar eine Verwandtschaft zwischen Literatur und Comic gibt, die aber auch leicht zu Missverständnissen führen kann.
Diese Besprechung soll nicht ohne eine kurze Klarstellung enden: „Der Mörder ist natürlich nicht die Graphic Novel.“ Doch wenn man sich als Wissenschaftler, Redakteur oder auch als Fan dieses Marketing-Labels, wie von Carlsen vorgemacht, bedient, dann sollte man sich gewahr sein, dass sich sowohl Comicleser als auch Informierte auf Dauer nicht mit einem solchen Stempel abfinden werden. Da es bereits genug Stempel gibt, sollte man einfach wieder Comics besprechen, analysieren und interpretieren und sich mehr Gedanken über die „Sprache der Comics“ machen. Es gibt genug zu tun und der Markt und die Graphic Novel brauchen unsere Hilfe nun wirklich nicht.
Homepage der Reddition (inklusive Inhaltsverzeichnis)
Edition Alfons, Juni 2009
Text: diverse
Softcover; 98 Seiten; 10,00 Euro
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Abbildungen: © Edition Alfons