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Topcomics 2010 – Die Favoriten der Redaktion

Wie schon vor einem Jahr stellen an dieser Stelle Comicgate-Redakteure ihre ganz persönlichen Lieblingscomics des abgelaufenen Jahres vor. Subjektiv und ohne Anspruch auf Allgemeingültigkeit – hier sind unsere Topcomics 2010!

Zu den Topcomics von 2009 geht es hier.

 

 

 

DIE TOP 3 VON BENJAMIN VOGT

3. Quintos
von Andreas
Edition Solitaire / Finix Comics
15,80 Euro

Quintos ist die Geschichte einer kleinen multinationalen Guppierung, die sich im spanischen Bürgerkrieg 1937 den Republikanern anschließt. Die einzelnern Personen dieser schnell separierten und dezimierten Einheit kämpfen aus völlig unterschiedlichen Motiven heraus in einem Land fern ihrer Heimat. Aus dieser Heterogenität bezieht das Comicalbum von Künstler Andreas zum Großteil seinen Reiz. Überdies wartet der Band mit brillanten Dialogen und scharfen Charakterdesigns auf. Es handelt sich um eine kompromisslose Erzählung um eine Gruppe von Menschen in einer Extremsituation. Und Andreas versteht es vorzüglich, dieses Setting in ein eindrucksvolles Comicwerk umzuwandeln.
[Rezension bei Comicgate]

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2. In meinen Augen
von Bastien Vivès
Reprodukt
18,- Euro

Wo der erste Comic von Bastien Vivès, Der Geschmack von Chlor, den ein oder anderen nach der Lektüre wohl etwas ratlos zurückgelassen hat, zieht der französische Künstler spätestens mit seiner zweiten Publikation hierzulande den Großteil der Leser völlig in seinen Bann. In meinen Augen ist ein sympathisches und emotionsgeladenes Werk, eine Liebesgeschichte, an der man während des Betrachtens auch selbst partizipiert. Aus der Ich-Perspektive lernt man ein junges, rothaariges Mädchen kennen und verfällt ihrem Charme, ihrem Lächeln, ihren Worten. Bastien Vivès zaubert wunderbar warme Bilder durch weiche Holzfarbstiftschraffuren. Erzählung und grafische Darstellung harmonieren hier einfach perfekt.
[Rezension bei Comicgate]

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1. Alpha Directions
von Jens Harder
Carlsen Verlag
49,90 Euro

Ja, was soll man über diesen Comic noch sagen, das nicht bereits gesagt wurde? Außer vielleicht, dass ich selbst die Vergabe des ersten Platzes in meiner persönlichen Rangliste des Jahres 2010 ein bisschen unfair finde: Jens Harders ambitioniertes Werk erschlägt uns, die Leser, mit Fakten und gigantischem Seitenumfang gleichermaßen. Im Grunde rangiert Alpha Directions stilistisch als Sachcomic (oder aufgrund der hohen Informationsdichte und der zurüchhaltenden Sequenzübergänge als bebildertes Sachbuch) auf dem hiesigen Markt. Der direkte Vergleich mit fiktiven, evtl. sogar auf Sprechblasen gestützen Comics, fällt da doch eher schwer.
Dennoch ist Harders Mammutprojekt (dem ja noch zwei weitere Bände folgen sollen), sein Versuch, sich Milliarden von Jahren Evolutionsgeschichte realistisch zu nähern und dabei Referenzen an Kultur-, Kunst- und Religionshistorie als alternative Sichtweisen einzupflegen, zu Recht auf dem Comic-Salon in Erlangen 2010 belohnt worden, wo Alpha Directions als Beste deutschsprachige Publikation ausgezeichnet wurde. Harders unwiderstehliche Art des Erzählens und der Ehrgeiz, den er bei diesem Projekt an den Tag legt, sind gar nicht hoch genug zu bewerten.

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DIE TOP 3 VON MARCO BEHRINGER

3. Gift
von Peer Meter und Barbara Yelin
Reprodukt
20,- Euro
Die Reise mit Bill

von Matthias Schultheiß
Splitter Verlag
29,80 Euro

2010 gab es gleich zwei Comebacks deutscher Autoren, die in den letzten Jahren eine Comic-Pause eingelegt und sich anderen Projekten gewidmet hatten. Mit Pauken und Trompeten haben sie sich zurückgemeldet und gezeigt, was die deutsche Comiclandschaft zu bieten hat. Erst hat sich der lange untergetauchte Autor Peer Meter mit der begnadeten Zeichnerin Barbara Yelin zusammengetan, um mit Gift, einem meisterlichen Auftaktband zu seiner „Serienmörder“-Reihe, sein Comeback zu feiern. Beeindruckend war die dichte Atmosphäre und die historische Authentizität, was auch Yelins unverkennbarem, skizzenhaftem Strich zu verdanken ist. 
[Rezension bei Comicgate]

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Daneben hat auch der Veteran Matthias Schultheiß nach jahrelanger Abstinenz wieder ein Lebenszeichen von sich gegeben. In Die Reise mit Bill (Splitter) hat er einen opulenten, mystisch angehauchten Road Trip geschrieben und gezeichnet, der gleichzeitig einfühlsam, phantastisch und fabulierfreudig ist. Beide Graphic Novels sind ausnahmslose Pflichtlektüren!
[Rezension bei Comicgate]

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2. Rembetiko
von David Prudhomme
Reprodukt
20,- Euro
Die Plastik-Madonna
von David Prudhomme und Pascal Rabaté
Carlsen Verlag
18,90 Euro

Auch David Prudhomme hat mich im Comicjahr 2010 gleich zweimal vom Hocker reißen können. Zunächst hat der mir bis dahin völlig unbekannte Autor und Zeichner durch Rembetiko (Reprodukt), eine rauchgeschwängerte Hommage an die griechischen Blues-Musiker, mich sowohl grafisch als auch inhaltlich in den Bann gezogen: Die herrliche Graphic Novel über das Außenseiter-Dasein der „Rembetes“ besticht nicht nur durch Prudhommes einzigartige und filigrane Strichführung, sondern auch durch die anarchistisch aufgeladene Story.

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Zusammen mit Pascal Rabaté hat er dann noch einen zweiten Kracher nachgelegt: Die Plastik-Madonna ist eine schwarzhumorige und wieder filigran illustrierte Gegenwarts- und Provinzsatire. Auch zwischen diesen beiden Titeln kann und will ich mich nicht entscheiden – muss man gelesen haben!
[Rezension bei Comicgate]

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1. Kapitän Scharlach
von David B. und Emmanuel Guibert
avant-verlag
19,95 Euro
Auf dunklen Wegen
von David B.
avant-verlag
24,95 Euro

Meine persönliche einflussreichste Entdeckung des Jahres 2010 war zweifelsfrei David B. Fast gleichzeitig erschienen kurz vor dem Erlanger Comic-Salon die beiden Alben Kapitän Scharlach und Auf dunklen Wegen. Da ich mich nicht entscheiden kann, welches der beiden Alben das bessere ist, kommen einfach beide auf den ersten Platz. Das erste ist eine kongeniale Zusammenarbeit mit Emmanuel Guibert, der seinerseits 2010 mit Alans Krieg (Edition Moderne) eine herausragende Graphic Novel abgeliefert hat, und dreht sich um den oft vergessenen Schriftsteller Marcel Schwob, dem David B. mit seiner phantastisch-absurden Piraten-Steam-Punk-Geschichte ein unvergessliches Denkmal gesetzt hat. 
[Rezension bei Comicgate]

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Und mit dem zweiten Album hat David B., diesmal im Alleingang, eine historische Reihe begonnen, die Elemente des Comic Noirs, der Satire und der Phantastik mit geschichtlichen Fakten zu einem unvergleichlich lehrreichen und amüsanten Cocktail vermischt. Beide dürfen in keiner gut sortierten Comicsammlung fehlen!
[Rezension bei Comicgate]

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DIE TOP 3 VON DANIEL WÜLLNER

Cover von Castro

3. Castro
von Reinhard Kleist
Carlsen Comics
19,90 Euro

Ohne mich in endlose Definitionen zu verstricken, sei gesagt, dass ein Comic eine einzigartige Erzählform aus Wort und Bild ist. Fragt man mich, welches die besten Comics im Jahr 2010 sind, dann kann meine Antwort nur lauten: jene Comics, bei denen die grafische Darstellung und die Handlung untrennbar miteinander verbunden sind. Reinhard Kleists Castro ist solch ein Comic. Obwohl ich zugeben muss, dass ich in der Vergangenheit kein besonderer Fan seiner Arbeit war, bin ich 2010 umso verblüffter. Castro funktioniert als historisch akkurat ausgearbeitete Studie über Fidel Castro, den Máximo Líder. Gemeinsam mit dem Kuba-Spezialisten Volker Skierka hat Kleist auf über 300 Seiten ein vielschichtiges Buch über die kubanische Revolution von ’59 und Castros Biografie verfasst. Und obwohl die historischen Fakten in schwarz-weißen Zeichnungen eingefangen wurden, unterscheidet sich der Comic von jeder trockenen Aufarbeitung der Historie.
Kleists grafische Darstellung macht deutlich, dass Fakten alleine noch keine Geschichte erzählen. Was zu Beginn nach einer simplen Rahmenhandlung aussieht, wird im Laufe der Erzählung zu einem Prisma der Perspektiven: Jede Figur bekommt die Chance in verschiedenen historischen Momenten ihren Kommentar zum Geschehen abzugeben – teils durch Originalzitate, teils fiktional erweitert. Um die Prägnanz der Situation zu verdeutlichen, bewaffnet Kleist Kubas aufgebrachten Mob kurzerhand mit einsilbigen Sprechblasen, die sie wie Banner ausrollen und wie Gewehre schultern, allzeit bereit zum Abfeuern: „Viva Fidel“ Solch grafischer Einfallsreichtum hätte auch Will Eisner sichtlich Freude bereitet. Dankenswerterweise ist Castro kein Geschichtsbuch, sondern ein Buch, dass eine Geschichte grafisch brillant umsetzt und sich dabei jedweder Einteilung in Gut und Böse entzieht.
[Rezension bei Comicgate]

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2. Engelmann
von Nicolas Mahler
Carlsen Comics
14,90 Euro

Platz Nummer zwei geht dieses Jahr an den Meister des Minimalismus, Nicolas Mahler. Auch wenn sich seine Superheldenparodie Engelmann von den restlichen Comics des Jahres 2010 abhebt, so folgt auch bei ihr die Form der Handlung, die wiederum der Form folgt. Anstatt das Superheldenuniversum komplett mit Helden und Bösewichten auszustaffieren, bleibt Mahlers Ensemble recht überschaubar: Die kleine Superheldengemeinde begrüßt ihr neustes Mitglied, Engelmann. Im rosafarbenen Spandex mit einem Paar Engelsflügeln und den Fähigkeiten „Empfindsamkeit“, „Gut-zuhören-können“ und „Ambivalenz“ ausgestattet, zieht er gegen übermächtige Gegner in die Schlacht. Er kämpft gegen seine Nemesis, den achtarmigen Chirurg Gender Bender – spezialisiert auf Geschlechtsumwandlungen – er versucht der Steuerfahndung zu entkommen und rechtsstreitet am Ende gegen seinen eigenen Verleger, KONZERN PUBLISHING. Was Engelmann zu einem hervorragenden Comic macht, ist die Tatsache, dass der spitze, schwarze Humor ganz ohne Gestik und Mimik auskommt. Anstatt den Humor plakativ zu präsentieren, macht sich Mahler zum Pointengeber und versteckt die Komik zwischen den Panels: Bei jeder noch so kleinen Anspielung auf das Superhelden-Genre (Superkräfte, Kostüme und Geheimidentitäten) spielt er den Witz dem Gehirn des Lesers zu, indem es KLICK macht; man beginnt innerlich zu schmunzeln. Die Kritik am Comic als Massenmedium steigert das Schmunzeln zu einem ausgewachsenen Lachen. Mit seiner simplizistischen Zeichne zieht sich Mahler sehr weit zurück und legt das volle Augenmerk auf das Spiel mit den Konventionen.

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1. Pinocchio
von Winshluss
avant-verlag
29,95 Euro

Der große Gewinner 2010 ist nicht Winshluss oder gar sein Comic Pinocchio, sondern die Fabulierlust höchst selbst. Ihr huldigt der französische Autor und Zeichner in unnachahmlicher Weise. Sein überdimensionaler Comic beherbergt neben Story aus der gleichnamigen Kinderbuchvorlage von Carlo Collodi zudem noch Winshluss‘ ganz eigene Visionen. Die Ausgangssituation scheint zunächst dieselbe wie im Kinderbuch zu sein: Der kleine Pinocchio soll ein „richtiger kleiner Junge“ werden. Der Rest hat so gar keine Ähnlichkeit mehr mit dem Original: Pinocchio trifft auf eine Welt – voll von sexsüchtigen Zwergen, faschistischen Clowns und Selbstmordpinguinattentätern – die ebenso weit von der Vorlage entfernt ist, wie von unserer aktuellen Realität. Und doch wirkt sie beängstigend bekannt. Aber auch Pinocchio hat sich verändert: Das spröde Holz ist einem Körper aus Metall gewichen und anstelle einer langen Nase besitzt der Kleine ein Arsenal an Waffen. Wie eine kleine Kampfmaschine zieht Pinocchio so komplett stumm durch Winshluss‘ wirre Welt. Was wie ein Märchen beginnt, wird brechend laut und gewalttätig, nur um am Ende feinsinnig zu werden und gar philosophische Töne anzustoßen: Will man in dieser perversen Welt, in der wir leben, überhaupt seine metallene Rüstung ablegen und seine Menschlichkeit durchschimmern lassen? Will man überhaupt ein richtiger kleiner Junge sein?
Das Schönste an dem Comic ist aber die Tatsache, dass an keiner Stelle nur der Hauch einer Hegemann-Debatte aufkommt. Allein am Wühltisch der Märchen und Sagen stehend, fördert Winshluss freudestrahlend eine irrwitzige Idee nach der anderen zu Tage und webt den neuen Stoff in seinen wilden Fabulierungen ein. Viel zu subversiv die Erzählform „Comic“ und gleichzeitig viel zu offensichtlich die Bildzitate, um darüber auch nur ein Wort zu viel zu verlieren. Ein Comic, der neben der Darstellung und der Geschichte auch noch die eigene Erzählform zelebriert und ihre Möglichkeiten offenbart, muss einfach Comic des Jahres werden.
[Rezension bei Comicgate]

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DIE TOP 3 VON THOMAS KÖGEL

Chew Vol. 1-3 (US)
von John Layman und Rob Guillory
Image Comics
je etwa 10,- US-Dollar

Zugegeben, der erste Sammelband von Chew erschien in den USA schon 2009 und die deutsche Fassung von Cross Cult kam nur wenige Tage vor Silvester in die Läden, so dass sie nur wenige noch im alten Jahr lesen konnten. Ich aber habe den ersten Band ganz zu Beginn des Jahres 2010 gelesen und die Bände 2 und 3 ganz zu Ende des Jahres. Und es gibt keine andere derzeit laufende Comicserie, die mich derart gut unterhält. Ausgehend von der charmant-bescheuerten Grundidee eines Polizisten, der beim Essen die komplette Lebensgeschichte des Lebensmittels, das er gerade kaut, wahrnehmen kann, spinnt John Layman einen hakenschlagenden Krimi, der sich nicht fest in einem Genre verorten lässt. Er enthält auch Zutaten aus Verschwörungsthriller, Comedy, Seifenoper, Science-Fiction und Horror, ist vollgepackt mit originellen Ideen und überraschenden Wendungen und bei aller Action, Gags und Spannung kommt niemals die Charakterentwicklung zu kurz. Das stark karikierende Artwork von Rob Guillory betont den komischen Aspekt des Comics, überzeugt aber auch in den ernsthaften Passagen. Große Klasse ist auch das Storytelling von Layman und Guillory, das mit allerhand erzählerischen Tricks arbeitet und sich sehr treffsicher der verschiedensten Stilmittel des Comics bedient. Eine Serie, die durch und durch Spaß macht und auch für 2011 tollen Lesestoff verspricht. 
(Bei Cross Cult ist Ende Dezember 2010 der erste Band auf Deutsch erschienen)

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Scott Pilgrim’s Finest Hour (US)
von Bryan Lee O’Malley
Oni Press
je etwa 12,- US-Dollar oder als Set

Der sechste und letzte Band des Scott Pilgrim-Epos ist nicht der stärkste der Reihe (das dürfte eher Teil 5 sein), aber er enttäuscht nicht und bringt auf würdige Weise eine der besten und unterhaltsamsten Comicserien der „Nuller Jahre“ zum Abschluss. Deshalb soll er hier genannt werden (so wie Peter Jackson seine Herr der Ringe-Oscars ja auch nicht direkt für „Die Rückkehr des Königs“, sondern für die komplette Trilogie bekommen hat). Ich habe in diesem Jahr noch einmal das komplette Werk gelesen – dabei fällt auf, wie sehr sich Bryan Lee O’Malley über die Jahre verbessert hat: Zeichnerisch, erzählerisch, beim Strukturieren seiner Story und seiner Seiten. Aus einem ungestümen, vielversprechenden Talent wurde ein gereifter Comicautor, der aber mit 31 Jahren noch jung genug ist, um von ihm noch einiges erwarten zu können.
(Bei Panini sind bisher drei Bände auf Deutsch erschienen, Band 6 erscheint voraussichtlich Ende 2011)

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Der Geschmack von Chlor
von Bastien Vivès
Reprodukt
18,- Euro

Direkt nach der Lektüre von Der Geschmack von Chlor war ich nicht davon überzeugt, soeben einen der Comics des Jahres gelesen zu haben. Die Liebesgeschichte, die sich ohne viele Worte, leise und unscheinbar in einem Schwimmbad anbahnt, wirkt erst einmal sehr unspektakulär. Aber der Comic hat eine ungeahnte Langzeitwirkung: Er hallt beim Leser nach, bleibt in Erinnerung. Einzelne Szenen, einzelne Bilder, aber auch die emotionale Grundstimmung der Geschichte: alles Dinge, die hängenbleiben. Der Geschmack von Chlor ist am Ende ein Comic, den man zwar schnell durchlesen, aber nicht schnell abhaken kann.
[Rezension bei Comicgate]

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Und als Bonus mein KURZCOMIC DES JAHRES:

Baby’s in Blue
von Mawil
erschienen im Tagesspiegel vom 17.10.2010, auf tagesspiegel.de sowie in Comix 11/2010

Arne Bellstorfs Baby’s in Black hat es zwar nicht ganz auf diese Liste geschafft, gehört aber ebenfalls zu den Höhepunkten des Comicjahres. Sein Kollege Mawil, der sich mit ihm und anderen Zeichnern auf der Comicseite des Tagesspiegel am Sonntag abwechselt, hat mit diesem Kurzcomic eine kleine Hommage geschaffen, die vor allem auch eine sehr amüsante Verneigung vor den Beatles ist. Fast jedes Panel bezieht sich eindeutig auf ein Bild aus der Beatles-Ikonografie, bleibt dabei aber immer ein typisches Mawil-Werk. Und als Satire auf die Geschichte des Kommunismus lässt sich Baby’s in Blue ebenfalls lesen. Dass ein so kurzer Comic auf so vielen Ebenen funktioniert, ist selten und kann nicht hoch genug gelobt werden.

 

 

DIE TOP 3 VON BJÖRN WEDERHAKE

It Was The War of the Trenches (US)
von Jacques Tardi
Fantagraphics
24,99 US-Dollar

Fast dreißig Jahre hat es gedauert, ehe in den USA ein Verlag Tardis vignettenhafte Betrachtungen des Ersten Weltkrieges großformatig, auf dickem Papier und als Hardcover in einem Band gesammelt hat (in Deutschlang gelang das Edition Moderne bereits 2002 unter dem Titel Grabenkrieg). Ein lohnenswertes Unterfangen, denn was Tardi hier schuf, gilt zu Recht als moderner Antikriegs-Klassiker, der den Vergleich mit Remarques Im Westen nichts Neues nicht scheuen muss.
Anders als Garth Ennis, der das Genre des Kriegscomics heute quasi alleine stemmt, hat Tardi kein Interesse an Politik und Strategie, an Kriegsromantik und Feldruhm. Seine Gräben der Westfront werden bevölkert von Karikaturen und plötzlich auftretenden Weißflächen, die so schnell wieder verschwinden – egal ob durch die Kugeln der Boches oder des allgegenwertigen Erschießungskommandos – wie sie aufgetreten sind. Nirgendwo lässt Tardi auch nur die kleinste Spur von Ruhm, Pathos oder Patriotismus durchscheinen. Nirgendwo findet sich die Idee, dass hier ein „beglücktes Häuflein Brüder“ für die Gute Sache kämpft. Auf Tardis Schlachtfeldern krepieren überforderte junge Männer, umgeben von Angst, Hass, Verzweiflung, Wahnsinn und Feigheit. Verlorene Augen, gewonnene Orden. Außer Dreck und Tod gibt es nichts zu holen.
Dabei verzichtet Tardi auf realistische Personendarstellungen. In den ausladend gezeichneten verwüsteten Städten, auf den Friedhöfen, in den Gräben (nach der ersten Geschichte werden die Seiten nicht mehr vertikal in Panels unterteilt) sterben Figuren, die mit dem geschwungenen Strich des Karikaturisten äußerlich oft so sehr stereotyp sind wie innerlich. Und doch, oder vielleicht gerade deshalb, wird Tardis Weigerung, die Augen vor dem Leid, den Verstümmelungen, dem Elend zu verschließen, so effektiv. Zudem hilft es, den Comic zu einer universellen Abrechnung mit jener Idee von Glanz und Gloria des Waffengangs zu machen, die die Nachfahren aller am „Großen Krieg“ beteiligten Parteien gleichermaßen anspricht.

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Parker – The Outfit (IDW)
von Darwyn Cooke
IDW Publishing
24,99 US-Dollar

Während Marvel und DC – frei nach Wile E. Coyote – immer wieder ihre irrwitzigen Pläne vorstellen, wie sie endlich ihre Comics im Buchhandel unterbringen werden, zeigt ausgerechnet IDW (der Verlag, der mit Horrorcomics und den Umsetzungen von Spielwarenfranchises aus den Achtzigern groß wurde) schon zum zweiten Mal, wie ein Comic aussieht, der ohne Weiteres im ernsthaften Buchhandel positionierbar ist. Darwyn Cookes neue Umsetzung von Richard Starks Parker-Romanen kommt wieder in Buchform daher, die ihre Wirkung noch unterstreicht. Wie schon in Parker – The Hunter bewiesen, gibt es keinen Besseren, um diese Geschichten in Comicform zu bringen. Cookes Stil schreit nach Stories, die in den 50ern und 60ern spielen – wie er oft selbst zeigte – und die komplett in Blautönen colorierten Parker-Bände wirken zeitgenössisch, aber nie altbacken.
Literaturcomics sind ein schwieriges Unterfangen: Zu groß ist die Gefahr, die Seiten mit Text zu überladen oder Szenen zu behalten, die zwar in geschriebener Form unabdingbar sind, den Gepflogenheit des Comics aber zuwiderlaufen. Mit The Hunter hat Cooke belegt, dass er sehr wohl fähig ist, das geschriebene Wort mehr als angemessen in Panels unterzubringen. Mit The Outfit geht er den nächsten Schritt und emanzipiert sich völlig. War The Hunter noch eine großartige Literaturumsetzung, so ist The Outfit durch und durch Comic. Statt sich an die Vorlage zu klammern, geht Cooke hier in die Vollen, setzt drei Raubzüge in unterschiedlichsten Zeichenstilen um, baut einen Magazinartikel und Collagen ein, referenziert Monopoly, Pulpmagazine und alte UPA-Cartoons … und das alles erzählerisch so dicht, dass die radikalen Stilwechsel immer die Geschichte tragen, statt den Leser aus ihr herauszureißen. Mehr denn je zeigt Cooke seine Vielseitigkeit und dass er zu Recht als einer der ganz Großen der US-Comicszene gilt. Das hier sind 150 Seiten pures Staunen darüber, wie sicher sich Cooke als Künstler seiner Sache ist … und wieviel Recht er dazu hat. Wenn man mit beladenen Begriffen wie „Graphic Novel“ oder „Comicliteratur“ hantiert, dann bitte bei Comics dieser Güteklasse.
(Eine deutsche Ausgabe der Parker-Bücher ist beim Eichborn Verlag geplant)

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Cover von 75 Jahre DC Comics – The Art of Modern Mythmaking (Taschen Verlag)

75 Years of DC Comics – The Art of Modern Mythmaking
von Paul Levitz
Taschen Verlag
150,- Euro

Gut, kein Comic, sondern Begleitliteratur … aber was für Begleitliteratur! 75 Years of DC Comics ist ein Coffee Table Book für Menschen mit extrem stabilen Kaffeetischen. Mit über 700 Seiten, fast einem halben Meter Höhe und 7 Kilogramm Gewicht (das Buch kommt in einem als Koffer nutzbaren Pappkarton mit einem Tragegriff, der ganz entschieden kein Gimmick ist) kann man dieses Mammutwerk auch nutzen, um osteuropäische Kleinwagen zu stoppen. Dafür spürt man in jedem Gramm die Liebe, mit der zu Werk gegangen wurde: Vom glänzenden Papier über die hervorragende Farbqualität bis zur oft sehr ästhetischen Seitengestaltung, immer ist bemerkbar, dass hier etwas Nachhaltiges geschaffen werden sollte, kein liebloses Cash-In zum Jubiläum. Die Partnerschaft mit dem Kunstbuchverlag Taschen ist dabei ein voller Erfolg. Der Untertitel „The Art of Modern Mythmaking“ zeigt bereits, dass hier kein Understatement zu erwarten ist. 75 Years of DC Comics ist ein durch und durch panegyrisches Werk, in dem Paul Levitz – immerhin vier Jahrzehnte lang eines der Gesichter von DC – sich und dem Verlag offen auf die Schulter klopft. Dann wiederum: Es ist eine Jubiläumsschrift, die nicht wegen Levitz’ chronologisch aufgebautem Essay erworben wird. (Eine gemütliche Leselage ist mit diesem Wälzer ohnehin unmöglich: im Liegen droht ein zerquetschter Schädel, im Sitzen Thrombose. Und als Urlaubslektüre eignet es sich nur, wenn man dafür auf den Koffer mit Kleidung und Reiseapotheke verzichtet.)
Wofür man das Buch kauft, sind die Tausende von Bildern. Die Cover und Comicseiten, die man nie zuvor in dieser Größe und Klarheit sah. Die Sketches und Notizzettel aus dem DC-Archiv, die man zum Teil überhaupt noch nicht sah. Die Photos, Filmbilder, Schallplatten- und Actionfigurenabbildungen, von denen man bisher gar nicht wusste, wie interessant sie sein können. Die Biographien. Die ausklappbaren Zeitleisten. Das Buch ist ein Potpourri aus 75 Jahren, randvoll gefüllt mit kleinen und großen Schätzen. Eine Liebeserklärung an einen Comicverlag, die von der berauschenden Aufmachung her ihresgleichen sucht und selbst Comicfremde ganz schnell in ihren Bann zieht. Bleibt nur zu hoffen, dass Marvel die Telefonnummer von Taschen bereits auf der Schnellwahltaste eingespeichert hat.
[Rezension bei Comicgate]

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