Eines muss man sich hier direkt staunend vor Augen halten: Annas Paradies ist die erste Serie von Daniel Schreiber. Ursprünglich war die Geschichte als Film geplant. Als Schreiber aber neue Ideen kamen, arbeitete er das Drehbuch in ein Comicskript um und realisierte so seine erste Serie. Gänzlich unerfahren ist der Autor im graphischen Bereich nicht, da er schließlich schon seit 15 Jahren als Illustrator arbeitet. Aber in dieser engen Text-/ Bildkombination, wie es in einem Comic nun mal der Fall ist, hatte er bislang noch nicht gearbeitet. So ist es eigentlich auch wenig verwunderlich, dass Daniel Schreiber relativ wenig mit Text arbeitet, sondern eher die Bilder die Geschichte weiterbringen. Diese ist im ersten Band noch recht übersichtlich, was verständlich ist, wenn man weiß, dass dieser Abschnitt der Handlung nur die Exposition für den geplanten Film sein sollte.
Im Winter 1946 liegt Deutschland wie der Rest Europas am Boden. In einer deutschen Stadt, erklärt sich der Schmuggler und Schwarzmarkthändler Viktor bereit, einen Nazi-General mitsamt Familie aus einem Viertel zu schleusen, das „das kleine Paradies“ genannt wird. Als sie in eine britische Kontrolle geraten, kommt es zu einem Feuergefecht, in dessen Verlauf der General und seine Frau sterben. Eher widerwillig nimmt sich Viktor deren Tochter an und gelangt in den Besitz einer Tasche mit geheimnisvollem Inhalt. Als wäre das noch nicht genug, fällt eines Tages eine junge Frau im wörtlichen Sinne vom Himmel. Zwar hat sie Flügel, die gelegentlich zum Vorschein kommen. Aber ein Engel scheint sie nicht zu sein.
Noch ehe man sich die Frage stellen kann, ob diese junge Frau, Anna, gut oder böse, Engel oder Dämon ist, wird sie auch schon beantwortet: Zu den Guten gehört sie nicht unbedingt. So wird zwar ein mögliches Spannungselement verschenkt, andererseits kann Anna somit als Symbol für die deutsche Seele kurz nach Ende des Zweiten Weltkrieges stehen.
Geboren aus Hass legten die Nazis Europa in Schutt und Asche. Ähnlich wie Anna als Kind durch Hass erweckt wird und für Zerstörung sorgt. Als sie registriert und reflektiert, was sie angerichtet hat, fällt sie vom bisherigen Glauben ab, wie die deutsche Bevölkerung angesichts des Kriegsgrauens von der herrschenden Ideologie. Anna versucht nun, gut zu sein, wobei ihr böses Naturell immer wieder nach vorn drängen möchte. Gerade dieser Aspekt ist es, der nicht nur die erwähnte Symbolik verfeinert, sondern für Spannung innerhalb des Comics sorgt. Man kann seine Vergangenheit und seinen bisherigen Glauben nicht einfach so abschütteln. Ähnlich wie die Verrohung und die Ideologie noch in der Bevölkerung schlummern (bis heute), so kann auch Anna ihre Natur nicht von einem Moment zum anderen ändern. Gerade dieser Zwiespalt sorgt für die Dramatik und die Spannung des ersten Bandes, der somit mehr von seinen Figuren als von der äußeren Handlung lebt.
Gerade die Zeichnungen treiben das Geschehen voran. Schreiber baut seine Seiten sehr geschickt auf, man erkennt seine Erfahrung als Illustrator, mit einem Bild viel zu erzählen. Leicht expressionistisch angehaucht, warten sie mit vielen gewagten Perspektiven auf und scheuen sich nicht vor Verzerrungen. Viele Worte und längere Monologe werden vermieden. Gerade Annas innerer Zwiespalt wird anschaulich anhand eines Bildes ihres inneren Blutkreislaufs dargestellt. Ein einzelnes Bild des inneren Organismus verdeutlicht die körperliche Verwandlung, das Adrenalin durch die Wut, die Erregung. Der US-Verlag Marvel hätte an dieser Stelle wohl mindestens einen dreiseitigen Monolog eingefügt. Die Panelanordnungen sind auch sehr filmisch und erzählen viel. Äquivalenzen zu Kamerafahrten, schnellen Schnittfolgen und passender Farbdramaturgie ergeben ein hohes Tempo, Dynamik und Spannung. Hier wird deutlich, dass der Comic einem Drehbuch entspringt. Ein sehr beachtliches Debüt, das Lust auf mehr macht. Auf viel mehr.
Wertung:
Beachtliches Comicdebüt, das es versteht, fast nur anhand von Bildern zu erzählen, wobei die eigentliche Story noch allzu übersichtlich ist.
Annas Paradies 1 – Von Dieben und Schmugglern
Splitter Verlag, Oktober 2011
Text und Zeichnungen: Daniel Schreiber
48 Seiten, farbig, Hardcover
Preis: 13,80 Euro
ISBN: 978-3-86869-297-6
Leseprobe
Abbildungen: © Daniel Schreiber/Splitter Verlag