2gegen1

2gegen1: Gratisrevue von Neunte Künst, Aufzug 1

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Aufmerksamen Beobachtern ist es nicht entgangen: Immer wieder kommt es vor, dass Comics veröffentlicht werden, oft sogar für Geld. Die Comicgate-Redakteure Wederhake und Frisch wollen diese Entwicklung nicht länger unkommentiert lassen. Heute gelesen: zwei Mitbringsel des diesjährigen Comic-Salons Erlangen, Hilda and the Midnight Giant von Luke Pearson und Die Toten 3 von Stefan Dinter, Christopher Tauber et al.

Cover Hilda and the Midnight Giant

WEDERHAKE: Hilda and the Midnight Giant ist nach Hildafolk die zweite Hilda-Geschichte von Luke Pearson, von dem ich bis dato nichts mitbekommen habe, was eine echte Schande ist, denn beide Geschichten sind wahnsinnig toll. Hilda ist ein kleines Mädchen, das mit seiner Mutter irgendwo in den Bergen eines Skandinaviens wohnt, in dem es ganz normal ist, dass Trolle, Riesen, Zwerge, Meergeister und flauschige Fuchsdinger mit Geweih frei und unbeschwert herumtollen.

In Midnight Giant fordern die unsichtbaren Zwerge, dass Hilda und ihre Mutter endlich aus ihrer Nachbarschaft sollen, damit wieder Ruhe einkehren kann, während Hilda nachts herausfindet, was mit dem titelgebenden Mitternachtsriesen ist, der urplötzlich erscheint, um wortlos wieder zu verschwinden. Dank der Konstruktion kann Hilda gleichzeitig Riese für die Zwerge und Zwerg für den Riesen sein und Verständnis für beide Perspektiven entwickeln.

Das wirklich Großartige ist aber nicht so sehr die Geschichte selbst, sondern das Artwork und Hilda als Figur. Hilda ist toll: mutig, rotzig, einfühlsam, verträumt, fasziniert, distanziert und wenn nötig actionheldig, ohne als filmtypisch-altkluges Klischeeblag rüberzukommen. Und dass Hilda so toll ist, liegt auch daran, dass Luke Pearson ihr diesen sehr cartoonigen Look gegeben hat. Die Mimik und Gestik, die er ins Buch bringt, sind spitzenmäßig. In fast jedem Panel weiß ich, was Hilda gerade denkt oder fühlt, ohne dass es in Dialogen gesagt werden muss. Was dem Comic sehr gut tut, weil viele dieser Panels einfach für sich selbst stehen und die Magie der von Pearson geschaffenen Welt unter zu vielen Sprechblasen verloren gehen würde.

Hinzu kommt, dass Pearson sein Paneling beherrscht: In der Welt der Zwerge gibt es viele kleine Panels. Wenn der Mitternachtsriese auftaucht, gibt es lange Panels, die deutlich machen, wie groß dieser Riese ist. Und wie gigantisch er ist, merkt man endgültig auf einer Splashpage, auf der er vor Hildas Haus niederkniet und eben so auf die – großformatige – Seite passt. In dem Moment hat es mir den Atem verschlagen, weil mir bewusst wurde, dass dieser Riese wirklich, wirklich riesig ist. Ganz davon abgesehen, dass er wundervoll fremdartig designt ist und völlig aus Gras, Steinen und Bäumen zu bestehen scheint. Hast du mal Shadow of the Colossus gespielt? Daran erinnerte mich das ein wenig, was hier als Kompliment gemeint ist.

Und dann ist da noch die leicht herbstliche Farbgebung. Und da sind die Kleinigkeiten, etwa dass Hildas Text in ihren Sprechblasen in der Welt der Zwerge dicker gedruckt ist, um zu zeigen, dass sie viel lauter spricht als die Zwerge. Und da ist die Art, wie Dinge, die Hilda tut, ihr auch selbst widerfahren. Und da sind die Nittens. Und, und, und. Hilda and the Midnight Giant ist ein wunderschöner, magischer Comic von jemandem, der sein Handwerk ganz offensichtlich versteht. Anrührend und niedlich, aber nicht kitschig oder schmalzig.

Eine riesige Empfehlung meinerseits, und Hildafolk sollte man sich auch gleich noch zulegen. Und wenn du jetzt anderer Meinung bist, dann hast du kein Herz, Blechmann!

wertung9

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FRISCH: Wederhake! „Zwei, drei kompakte Absätze“ wollten wir schreiben, und jetzt raspelst du schon beim Startschuss völlig unkritisch die Kolumne voll. Aber wenigstens hast du recht. Luke Pearson ist für mich die Entdeckung des Salons, dem feinen kleinen Nobrow-Stand sei Dank. Der erwähnte Minicomic Hildafolk (für Kinder) und Pearsons Mini-Graphic-Novel Everything We Miss (nicht für Kinder) sind längst nachbesorgt, gelesen und für gut befunden.

Was mir an Pearson vielleicht am besten gefällt, ist sein Mut zu dissonanten Zwischentönen. Man sollte etwa meinen, fröhlich tanzende Bäume (!) im Hintergrund einer melancholischen Szene wie der Anfangssequenz von Everything We Miss seien nicht unbedingt die beste Wahl eines erzählerischen Mittels. Man hätte ihm davon abraten wollen. Aber: Es funktioniert.

Ähnlich ist es am Ende von Midnight Giant. Statt ein unverdient versöhnliches Hollywood-Ende abzuliefern, schlägt Pearson auf der vorletzten Seite einen dramaturgischen Haken, pfeift auf die Unsitte der Brechstangen-„Closure“ (wofür es im Deutschen dankenswerter Weise kein Wort gibt) und verlässt seine Figuren, als sie praktisch vor dem Nichts stehen.

Zu mäkeln hätte ich, dass die Konflikte mit den Zwergen und dem Riesen in der Geschichte etwas hastig abmoderiert und thematisch nicht überzeugend vertieft werden. Davon abgesehen kann ich deine Lobhudelei aber unterschreiben. Pearson ist ein erstklassiger und – das zeigt auch der Vergleich mit Everything We Miss – stilistisch erfreulich variabler Erzähler.

wertung8

Hilda and the Midnight Giant
von Luke Pearson
Nobrow, 2011/2012
Hardcover-Album, englisch, farbig, 40 Seiten, 11,95 GBP/ 24,00 USD
ISBN: 978-1-907704-25-3 

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Cover Die Toten 3

 

FRISCH: Im dritten Band der Zombie-Anthologie Die Toten haben unsere Freunde von Zwerchfell wieder drei eigenständige Storys kredenzt, die vor dem Hintergrund einer Zombie-Seuche in Deutschland spielen. Was ich generell vom Konzept her so unmittelbar überzeugend und vor allem simpel finde, dass ich mich frage, wieso da eigentlich vorher keiner drauf gekommen ist. Hier passt einfach alles, von der Idee bis zum Titel und Layout, und es überrascht mich auch nicht, dass die Reihe für Zwerchfell so erfolgreich läuft.

Umso erstaunlicher ist es, dass sich zwei der drei Geschichten im aktuellen Band eher um das Konzept der Serie drücken, als etwas damit anzufangen. In „Schwarzwald“ von Dietmath Dath, Christopher Tauber, Stefan Dinter und Till Mantel sucht ein junges Pärchen mit kleiner Tochter Zuflucht in der Villa eines Bekannten, die sich schnell als Grusel-Schloss in bester Gothic-Horror-Tradition entpuppt. Die Story ist im Prinzip ein Schauerroman in Reinform und hat mit den Zombies draußen nichts zu tun. Die Zeichnungen und Farben sind stimmungsvoll, das Seitenlayout klassisch, die Geschichte wird klar und trittsicher erzählt. Die Dialoge laufen gut rein, und die Handlung ist herrlich abstrus. Leider bleiben die Figuren reichlich blass und klischeehaft, da hätte man mehr draus machen können.

Bei der zweiten Story, „Leipzig“ von Barbara Kirchner und Marc Ewert, musste ich die ersten paar Seiten dreimal lesen, um zu kapieren, was da läuft. Zu viele Figuren, die zu ähnlich aussehen, zu viele Ortswechsel, zu wenige klare Establishing Shots, und im zweiten Panel auf Seite 42 wusste ich erst nicht, ob das zwei Figuren sein sollen oder eine Bewegung. Rein erzähltechnisch also nicht unbedingt das Gelbe vom Ei. Total genervt haben mich die Dialoge, die weitgehend aus abgehackten Satzfetzen, kurzen Ausrufen und einsilbigen Wörtern bestehen. Das kann funktionieren, wenn es in Maßen eingesetzt und dem Erzähltempo angepasst wird, aber hier liest es sich schlecht, erschwert das Verständnis der Geschichte, und die Seiten sind damit zugekleistert. Was zur Folge hat, dass ich den Figuren schon früh einen schlimmen Tod wünsche.

Dabei ist die Story vom Konzept her gar nicht mal verkehrt; typisches Twilight-Zone-Material. Immerhin: schön klaustrophobisch ist das Ganze, wenn man den Hacksprech ignoriert. Der Zeichenstil gefällt mir, auch wenn’s teils etwas holprig zugeht. Graphisch, vor allem farblich, hat die Geschichte ein paar nette Aha-Effekte in petto. Leider sind Autorin und Zeichner übers Ziel hinausgeschossen in dem an sich legitimen Bestreben, die Hektik und Orientierungslosigkeit der Situation auch auf den Leser zu übetragen. Mich hat der Comic beim Lesen eher frustriert als mitgerissen.

Zu guter letzt gibt’s noch „Stuttgart“ von Tilman Rau und Benjamin Höllrigl, das letztes Jahr zum Comicfestival München ja schon als Vorab-Single ausgekoppelt worden war. Die Story nimmt im Gegensatz zu den anderen beiden das Zombie-Thema dankend an, tut das aber auch nicht im konventionellen Sinn. Statt klassischer Flucht-vor-den-Untoten-Szenen gibt’s hier eine Charakterstudie vor dystopischer Kulisse. Dabei wird viel Lokalkolorit aus dem Ländle aufgeboten und eine Hauptfigur, die richtig gut ausgearbeitet und in Szene gesetzt wird: Klaus-Dieter Stengel, ein schwäbischer Bankangestellter wie er im Buche steht, für den die Zombie-Apokalypse nicht gleich ein Weltuntergang sein muss, solange man sie denn richtig verwaltet. Und das tut er, durchaus zukunftsorientiert, während er sich gleichzeitig fleißig an der täglichen Beseitigung der Zombies und ihrer Spuren beteiligt. Seine Frau ist von all dem leider weniger begeistert.

„Stuttgart“ ist mit Abstand die beste der drei Storys. Die Figurenzeichnung ist großartig, die Geschichte thematisch interessant und stimmig. Leider geht ihr nach hinten raus etwas die Puste aus, nicht nur zeichnerisch. Die reinen Bleistiftzeichnungen Höllrigls passen an sich gut, werden aber praktisch mit jeder Seite skizzenhafter und weniger ausgearbeitet, was einen ziemlich unrunden Eindruck hinterlässt. Auch das Ende der Story auf den letzten drei, vier Seiten enttäuscht, weil es weder plausibel ist noch der Figur dramaturgisch gerecht wird und insgesamt sehr überhastet wirkt. Da wäre mehr definitiv mehr gewesen: mehr Zeit, mehr Seiten, mehr Story. Klaus-Dieter Stengel hätte es verdient gehabt.

Alles in allem ergibt das ein abwechslungsreiches Päckchen weitgehend solider und unterhaltsamer Genre-Kost, mit starken erzählerischen Abstrichen bei „Leipzig“ und einem verstolperten Finish bei „Stuttgart“. Letzteres lässt auch reichlich Potenzial erkennen, das über Genre-Unterhaltung hinausgeht. Von Tilman Rau und Benjamin Höllrigl würde ich mir auch mal einen längeren Comic kaufen.

(Nachtrag: Laut Verlag wird’s in der regulären Edition von Die Toten 3 noch einige inhaltliche Änderungen im Vergleich zur von uns besprochenen Special Edition geben.)

wertung5

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WEDERHAKE: So, so, Frisch. So sehen also zwei, drei kompakte Absätze aus? Na gut. Bevor ich zu den dritten Toten komme, möchte ich erstmal Anstoß an deiner unreflektierten Aussage nehmen, dass Hildafolk für Kinder sei. Denen kann man das nämlich auch geben, aber eben nicht ausschließlich. Auch das war zum Teil emotional härterer Tobak.

So. Nun zu den Toten, Zwerchfells sehr freier, zombiegefüllter Umsetzung einer Kurzgeschichte von James Joyce. An „Schwarzwald“ ist mir besonders aufgefallen, wie sehr sich Tauber seit seinen Inter View Pop Comics zeichnerisch weiterentwickelt hat. Was auch am Zusammenspiel mit Dinter (Inks) und Mantel (Farben) liegen mag. In einzelnen Panels erinnert besonders das Gesicht der männlichen Hauptfigur an den frühen Frank Miller, und Taubers Zombies sind richtig schön pfui deibel. Sehr schade, dass er diese Stärke – wie du ja sagst – im Rahmen der Geschichte kaum ausspielen kann, bei der ich zuerst noch sehen wollte, wohin sie mit ihrem Vampir-Topos („Draculas Gast“) steuert, nur um dann am Ende arg enttäuscht zu sein. Die Auflösung des „Konflikts“ war mir mit zuviel Gewalt auf „cleveres Missverständnis“ zusammengezimmert. Wandelnde Tote? Ja. Aber das?

Bei „Leipzig“ finde ich die erste Seite sogar richtig gut, weil sofort gezeigt wird, dass Ewerts superabstrakter Stil zur Zombieapokalypse passen kann, die ich eigentlich eher in „realistischeren“ Bildern dargestellt haben möchte. Flugzeugabsturz, Massenpanik und Zombies in blassem Blau, was ich als Reminiszenz an die Zombies in Romeros klassischem Dawn of the Dead sehe. (Ich sehe aber auch den Notarzt auf Ingo Römlings Titelbild als Reminiszenz an Michael Jacksons „Thriller“-Video.) Leider macht die Geschichte da nicht weiter, sondern geht in ein unterirdisches Biotech-Labor. Und da mäandert sie irgendwie um drei kaum definierte Überlebende herum, wobei es der Figurenidentifikation nicht hilft, dass zwei von denen an Amnesie leiden. Böte wenigstens das Ende eine ordentliche Überraschung. Aber das ist nicht die Twilight Zone, das ist das Remake der Outer Limits aus den Neunzigern.

Ich spoilere da mal: Ein Anti-Zombieseuchen-Impfstoff in Giftgrün. In klassischen „Mad Science“-Spritzen. Neun Tage, nachdem die Zombie-Epidemie ausgebrochen ist. Mit der Nebenwirkung, dass der Anwender an Amnesie leidet und wie Benjamin Button immer jünger wird. Ah, geh weida. Das ist so bescheuerte Zauberwissenschaft, da kann ich nur hoffen, dass man den Blödsinn möglichst schnell vergisst und nicht zu einem zentralen Element weiterer Bände macht. Dass das Artwork, vor allem auf Seite 53, teilweise so aussieht, als wenn es jemand schnell mit MS Paint zusammengekloppt hätte, macht die ganze Geschichte nur noch mehr zum Rohrkrepierer.

Immerhin ist „Stuttgart“ von Rau und Höllrigl wirklich gut. Klaus-Dieter Stengel ist als Figur so piefig deutsch, dass ihn nicht einmal das Ende der Welt vom Dienst nach Vorschrift und seinen Mittelstandsträumen abhalten kann. Solche Leute halten die Welt nach der Apokalypse zusammen, nicht Helden oder Postboten. Sehr schön ist auch, dass man sich Gedanken gemacht hat, wie die Stuttgarter ihren Stadtteil zombiefrei halten und sich mit der neuen Situation arrangieren. Die Entsorgungsmethode für die Zombies fand ich unheimlich kreativ, das hat Spaß gemacht. Dazu kommt noch, dass die Geschichte (zunächst) detailliert visualisiert wird und besonders über die Hintergrundzeichnungen sehr gekonnt Ordnung und Chaos einfängt und der Story zusätzliches Lokalkolorit verleiht. „Stuttgart“ ist die einzige Geschichte in diesem Band, die man nicht eins zu eins auch in Frankreich, England oder den USA spielen lassen könnte.

Das Ende erscheint mir aber auch zu abrupt. Da kommt eine Vergewaltigungsszene vor, die mir in der Form zu schnell und locker weggeheftet wird. Und was genau auf der letzten Seite passiert ist, wird mir erzählerisch nicht deutlich genug gemacht. Was auch daran liegen mag, dass die ganze Seite nur noch in Bleistift gehalten ist und kaum noch mit deutlichen Outlines gearbeitet wird, wie am Anfang der Geschichte. Da der Comic ja schon vor einem Jahr fertig war, kann das eigentlich nicht an Zeitmangel gelegen haben. Aber den erzählerischen Sinn, die Metaphorik hinter dieser Entscheidung, verstehe ich nicht. Undeutliche Zeichnung = Zerfall des geordneten Lebens von Stengel?

Es bleibt dabei: Ich mag das Konzept von Die Toten mehr als die Umsetzung. Die Zombie-Apokalypse in Deutschland bleibt jenseits von Rammbock unbeackertes Land, auf dem einiges gedeihen könnte. Aber dann sollten die Geschichten eben auch Zombies nicht nur im Vorbeigehen beinhalten und deutlich „deutscher“ sein, sonst spielt man gegen seine eigenen Stärken. Und genau das tut man in Band 3 leider deutlich zu oft.

 wertung4

Die Toten 3:
Internationaler Comic-Salon Erlangen 2012 Special Edition
von Dietmar Dath, Christopher Tauber, Stefan Dinter, Till Mantel, Barbara Kirchner, Marc Ewert, Tilman Rau, Benjamin Höllrigl und Ingo Römling
Zwerchfell, 2012
Hardcover, teilweise farbig, 80 Seiten, 15,00 Euro
ISBN: 978-3-943547-05-4

Reguläre Ausgabe:

nlintX

Abbildungen: © Luke Pearson/Nobrow und Ingo Römling/Zwerchfell Verlag