Rezensionen

Love and Rockets Vol. II 20 (US)

bookcover_lr2.20.jpgWenn ich an Mexiko denke, gibt es drei Dinge, die mir besonders einfallen: Lucha Libre, der Subcommandante Marcos – und vor allem Love and Rockets. Seit über 20 Jahren versorgen die mexikanisch-stämmigen Brüder Gilbert & Jaime Hernandez die Welt mit ihren Comics und erzählen einerseits (Jaimes Storys) von den Entwicklungen der beiden L.A. Hispanics Maggie Chascarillo und Hopey Glass – von Raketenmechanikerinnen über Punks bis ins Bürgertum – und andererseits (Gilberts Storys) vom kleinen mexikanischen Dorf Palomar und dem Schicksal seiner Bewohner. Dabei liefern die Brüder nicht nur eine gelungene Darstellung von Immigranten zweiter oder dritter Generation bzw. dem Leben in einem Schwellenland – sie liefern vor allem glaubhafte Darstellungen vom Leben an sich: Menschen altern, nehmen zu, wechseln Jobs, ziehen um, verlieben und trennen sich, hadern mit sich und ihrer Umwelt. Man muss schon lange suchen, um eine Comicserie zu finden, die nur annährend so komisch, traurig, echt und schön ist wie Love and Rockets, und noch viel länger, um eine Serie zu finden, die all diese Eigenschaften so lange auf so konstantem Niveau aufweisen kann.
Was bleibt einem dazu anderes zu sagen als ein klischeehaftes: Viva Los Bros?!

Jaimes Hälfte der aktuellen Ausgabe besteht aus der Story „La Maggie La Loca“, einem Bericht von Maggies Urlaub bei der weltberühmten Catcherin Rena Titanon. Sie stellt für die Serie ein Novum dar, ist sie nicht nur eine der wenigen farbigen Hernandez-Stories und des Meisters erster Ausflug auf das Gebiet des Comicstrips, sondern auch der erste L&R-Comic, der nicht innerhalb der Reihe erstveröffentlicht wurde, sondern als Fortsetzungsgeschichte auf den Seiten der New York Times. DIE New York Times mit einer Auflage von mehr als einer Millionen Exemplaren und Lesern aus allen Schichten und Kulturkreisen. Eine gute Gelegenheit also, auf diese Weise außerhalb der Comicszene Werbung für die Serie zu machen und sich erstmals einer breiteren Masse zu präsentieren. Schade allerdings, dass dafür ausgerechnet dieser Comic herhalten muss, denn die Geschichte von Maggies Besuch bei Rena Titanon ist für L&R-Verhältnisse eher durchschnittlich. Das Format Comicstrip scheint für Jaime eher weniger geeignet, einerseits vielleicht wegen der relativen Unerfahrenheit auf dem Gebiet, andererseits auch wegen den speziellen Eigenschaften des Strips, die Hernandez daran hindern, seine Qualitäten richtig auszuspielen.

Ein Strip als Fortsetzungsgeschichte wirkt meist so, als würde er dem Zwang unterstehen, ständig das Interesse des Lesers aufrecht zu erhalten, ein hohes Erzähltempo ist also erfordert. Nun sind Jaimes Stärken aber mehr die Dinge, die den Erzählrhythmus verlangsamen: lange Interaktionen zwischen den Figuren, Alltäglichkeiten, Charaktermomente. Kleinigkeiten, die die Handlung nicht sonderlich vorantreiben, aber den Figuren diese Tiefe verleihen, die L&R zu einem der lebendigsten Stücke Fiktion machen, die man so mit einem Bleistift,etwas Tusche und ein paar Blatt Papier herstellen kann.

„La Maggie La Loca“ nimmt sich für solche Momente weniger Zeit. Präsentiert wird zwar eine Geschichte mit deutlich höherer Schlagzahl als gewohnt (Maggie in Seenot! Raub! Rena verhaftet!), die einen jedoch deutlich kälter zurücklässt als die weniger spektakulären Vorgänger. Mag sein, dass die Geschichte den ein oder anderen Leser gewonnen hat – eine bessere Werbung wäre aber eine L&R-typischere Story gewesen, wie z.B. die großartige Maggie-als-Kind-Backstory, die mit dem altbekannten schwarz-weiß- und einem hübschen Hank-Ketchum-Stil aufwartet.

In der zweiten Hälfte des Comics widmet sich Gilbert weiter seiner seit Beendigung des Palomar-Zyklus bevorzugten Figur der B-Movie Ikone Fritz und dem sie umgebenden Personenkreis. Dabei kann Gilbert auch weiterhin den Eindruck nicht entkräften, dass er seit dem Verlassen Palomars irgendwie sein Mojo verloren hat. Die Geschichte ist zwar wieder etwas stärker – sehr schön erzählt und mit ein paar hübschen und einfallsreichen Momenten (Stichwort Kinderpuppenshows) -, aber ohne die magisch-realistische Überbau der Palomar-Geschichten scheint Gilbert mehr und mehr im Sumpf seiner Obsessionen zu versinken. In den neuesten Geschichten wimmelt es nur so von B-Movie-Anleihen, unmotivierten Sexszenen und Frauen mit Tura-Satana-Gedächtnis-Figuren und sonstiger Dinge, auf die Gilbert so zu stehen scheint. Das sind Elemente, die einer Geschichte jetzt zwar nicht unbedingt schaden müssen; wenn darunter allerdings wie in diesem Fall die Glaubwürdigkeit der Figuren leidet, ist das allerdings ärgerlich. Bleibt zu hoffen, dass Gilbert bald wieder zu alter Stärke zurückfindet, wie mit der rührend surrealen Science-Fiction-Story „Errata“ bereits angedeutet.

Insgesamt ist L&R 20 ein eher schlechtes Beispiel, um die Serie vorzustellen (und beim Schreiben dieser Zeilen schlägt der Autor gerade mehrfach seinen Kopf gegen seinen Schreibtisch, aus Ärger, gerade DIESE Ausgabe seiner Lieblingsserie dafür ausgesucht zu haben). Aus meiner Sicht ist es einer der wenigen Ausrutscher der Reihe – der aber immer noch besser ist als viele andere Comics. Von daher: Auch wenn man dieses Heft nicht unbedingt haben muss – die anderen um so mehr.
[Anm.: „Vol. II“ werden alle L&R-Bände genannt, die, nach einer fünfjährigen Pause, seit 1996 das Licht der Welt erblickten.]

Love and Rockets (Vol. II) 20 (US)
Fantagraphics (
L&R-Unterseite)
Text und Zeichnungen: Jaimie und Gilbert Hernandez
64 Seiten; 7,99 US-Dollar

Schwächerer Band einer herausragenden Reihe

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