Inio Asano ist gar keine so neue Erscheinung in Deutschland. Bereits 2006/7 erschien das zweibändige What a Wonderful World bei Egmont Manga. Die wenigen Kritiker, die sich damals schon mit Manga befassten, lobten den Titel überschwänglich. Kaufen wollte ihn aber so gut wie niemand, und das Thema Asano war für Egmont damit erledigt. 2010 legte Schreiber & Leser unter seinem Shodoku-Imprint mit Sun Village nach, einem Einzelband, der sich lose an die episodischen Handlungen in What a Wonderful World anlehnte. Auch hier waren die Wenigen, die sich den Band anschafften, überschwänglich des Lobes, was sich in der deutschen Comic-Landschaft aber weiterhin kaum in ökonomische Gewichtung umrechnete. Sun Village ist derzeit noch erhältlich, What a Wonderful World wurde von Egmont bereits vor einiger Zeit aus dem Programm genommen.
Aller guten Dinge sind drei, dachte man sich ausgerechnet bei Tokyopop, die sich an eher anspruchsvollen und experimentellen Manga-Veröffentlichungen bisher kaum versucht hatten, und startet dieses Frühjahr gleich eine ganze Asano-Offensive: Das zweibändige, hochgelobte Meisterwerk Solanin erscheint ab April. Bereits erhältlich ist der erste Band von Asanos opus magnum Gute Nacht, Punpun, das in Japan bereits elf Bände umfasst und noch nicht abgeschlossen ist. Für Herbst 2013 sind noch weitere Asano-Einzelbände geplant, sodass Tokyopop hier bereits von einer Werkausgabe spricht.
Dass man mit Gute Nacht, Punpun etwas ganz Besonderes vor sich hat, merkt man spätestens, wenn man versucht zu beschreiben, was dieser Manga eigentlich ist. Ein Jugenddrama? Irgendwie schon. Schließlich sind die Hauptfiguren Kinder, allesamt kurz vor der Pubertät stehend. Das erste Interesse am anderen Geschlecht, die Unerfahrenheit im Umgang mit sexuellen Themen sind wichtige Bestandteile der Geschichte. Auch die Gefühlswelt der titelgebenden Hauptfigur gerät aus den Fugen, als sich der schüchterne Junge in seine neue Mitschülerin Aiko verliebt – ein Mädchen mit Zahnlücke, das überzeugt ist, dass die Menschheit bald aussterben wird, von der Flucht aus ihrem öden Leben träumt und in dem naiven Punpun einen Mitstreiter sucht und findet.
Doch – und hier wird es seltsam – Punpun ist, wie alle Mitglieder seiner Familie, kein Mensch, sondern ein kleiner Strichmännchenvogel, extrem simpel gezeichnet, eigentlich nur ein halbes Oval mit Schnabelspitze und einem Punkt als Auge. Damit fällt Punpun schon ästhetisch völlig aus dem Rahmen, denn ansonsten ist der Manga hochdetailliert und realistisch gehalten. Asano-Kenner fühlen sich Dank seiner typischen Figurendesigns mit den runden Gesichtern und breiten Mündern von Anfang an gleich heimisch. Asano bricht hier die Wahrnehmungsgewohnheiten der Leser, denn während die Punpuns auf dem Papier wie Fremdkörper wirken, behandeln alle Figuren in der Geschichte sie wie ganz normale Mitbürger. Selbst die restlichen Punpuns benehmen sich nicht weniger absonderlich als die meisten anderen Figuren in Gute Nacht, Punpun: Als Punpun-Papa im Suff Punpun-Mama niederknüppelt, befördert er damit seine Frau dauerhaft ins Krankenhaus und sich selbst ins Gefängnis, und von nun an kümmert sich Punpuns soziopathischer Onkel Yuichi um den Jungen.
Ist Punpun dann eine Satire? Auch das, sicherlich: Der Manga zieht insbesondere die Reaktionen der erwachsenen Figuren oft ins Groteske, verzerrt ihre Gesichter zu extremen, entstellten Grimassen und lässt sie Dinge sagen, die unter der gesellschaftlichen Maske der japanischen Umgangsformen in der Regel ungesagt bleiben. Damit inszeniert Asano den Wahnsinn des Alltags mit rabenschwarzer, bitterböser Konsequenz. Dennoch ist Punpun als dramatische Figur nicht Mittel zum Zweck irgendeiner Agenda, sondern wird von Asano mit all seinen Hoffnungen und Ängsten durchaus genommen.
Doch selbst damit hat sich Gute Nacht, Punpun noch lange nicht kreativ erschöpft. Asano streut immer wieder aus dem Nichts schräge Visionen, Halluzinationen und psychedelische Sequenzen dazwischen, windet sich in haarsträubenden Absurditäten und taucht hin und wieder selbst per Fotomontage als dauergrinsender nackter Gott auf, der Punpun Ratschläge erteilt. Die vielen Absonderlichkeiten des Manga sind teils zum Schreien komisch. Dann bricht wieder die für Asano typische bedrückende, tragische, mitunter apokalyptische Grundstimmung hervor, die sich in den kommenden Bänden noch verstärken wird.
In Sachen Ausstattung kann die Tokyopop-Ausgabe glänzen: Das grellgelbe Cover kommt mit Punpun-Prägedruck und Klappbroschur. Der deutsche Übersetzung liest sich flüssig und lebendig. Die japanischen Soundwords blieben erhalten und wurden durch grafisch angepasste deutsche Soundwords ergänzt. Und bei gut 220 Seiten für gerade mal 6,95€ sollte hier wirklich jeder zugreifen, der auch nur rudimentäres Interesse an hochwertigen Manga-Publikationen hat. Es ist Tokyopop wirklich zu wünschen, dass sie mit ihren Asano-Veröffentlichungen mehr Glück haben als die anderen deutschen Verlage vor ihnen, denn hier ist ein Ausnahmekünstler am Werk, dessen Publikationen den deutschen Manga-Markt aufwerten wie kaum etwas anderes.
Fazit: Ein wunderschön gezeichnetes, eigenwilliges, ebenso absurd komisches wie ergreifendes Manga-Meisterwerk. Definitiv einer der besten Titel auf dem deutschen Markt, an dem angesichts von Ausstattung und Preis eigentlich kein Weg vorbei führen sollte. Kaufen!
Wertung:
Wunderschön gezeichnetes, eigenwilliges, ebenso absurd komisches wie ergreifendes Manga-Meisterwerk
Gute Nacht, Punpun 1
Tokyopop, März 2013
Text und Zeichnungen: Inio Asano
Übersetzung: Sakura Ilgert
224 Seiten, schwarz-weiß, Softcover, broschiert, japanische Leserichtung
Preis: 6,95 Euro
ISBN: 978-3-8420-0687-4
Leseprobe
Abbildungen: © der dt. Ausgabe: Tokyopop
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