Die Offenbarung des Johannes ist das letzte Buch der kanonischen Bibel. Auch wenn sein Inhalt heute so rätselhaft ist wie eh, liefert die Schrift doch viele der bekanntesten Sinnbilder des Christentums: Das Buch mit den sieben Siegeln, die vier apokalyptischen Reiter, die Hure Babylon und natürlich die berüchtigte 666 als Zahl des Tieres – sie alle finden sich in der Johannes-Offenbarung.
Ende des ersten Jahrhunderts, auf dem Höhepunkt der Christenverfolgung, schrieb der Prophet Johannes seine apokalyptischen Visionen von der christlichen Endzeit in ebenso drastischen wie symbolisch verschlüsselten Versen nieder. Seine Anklagen gegen das römische Kaisertum versteckte er hinter komplizierter Zahlenmystik und metaphorischer Bildsprache, um sich und seine Glaubensgenossen vor Repressalien zu schützen. Eine Adaption in Form einer Graphic Novel klingt da nach einer gar nicht so schlechten Idee. Zum einen bietet der Text viel bildgewaltiges Material, das wie für eine grafische Umsetzung geschaffen ist. Zum anderen verspricht diese auch eine gewisse Konkretisierung der überwiegend kryptischen Visionen. Spannende Voraussetzungen also für das Projekt der beiden Amerikaner Matt Dorff und Chris Koelle.
Von einer Graphic Novel zu reden, ist hier allerdings etwas irreführend. Im Wesentlichen handelt es sich hierbei um den ungekürzten Bibeltext, der dann in Illustrationen umgesetzt wurde. Kein Panel bleibt dabei ohne eingeschriebenen Text. Das Primat des Textes soll also unangetastet bleiben, was natürlich ein anderer Ansatz ist, als ihn Comics in der Regel verfolgen. Dementsprechend werden Dorff und Koelle auch nicht als Autor und Zeichner genannt, sondern als Art Director (Dorff) und Illustrator (Koelle). Die amerikanische Originalversion basiert dabei auf einer modernisierten Neuübersetzung der Offenbarung. Die deutsche Ausgabe hingegen stützt sich weitestgehend auf die klassische Luther-Übersetzung, was schade ist, denn eine kleine Auffrischung wie in der US-Ausgabe hätte dem sperrigen Text durchaus gut getan.
Letztendlich ist der interessantere Aspekt des Projekts natürlich die illustrative Umsetzung. Und hier haben Dorff und besonders Koelle wirklich ganze Arbeit geleistet. Koelle, selbst gläubiger Christ und als freier Illustrator für die verschiedensten Projekte und Medien tätig, vom Plattencover bis zur Filmanimation, erarbeitet die Darstellungen aus expressiven Linearts und intensiven Hell-Dunkel-Kontrasten heraus. Eine flirrende Leuchtkraft beherrscht die Bilder. Vor dem schwarzen Seitengrund wirken die Panels oft wie mit Licht gezeichnet. Farbe wird sparsam eingesetzt. Warme, monochrome Orange- und Brauntöne herrschen vor. Nur selten setzt das Artwork gezielte, aber dann meist sehr wirkungsvolle Farbakzente. Unabhängig davon, wie man zu der biblischen Vorlage steht – das Buch ist einfach unbeschreiblich schön anzusehen. Koelle setzt das ehrfürchtige Staunen, das Johannes beim Empfang der Visionen empfindet, gekonnt um. Seine Illustrationen erzeugen ein intensiv spürbares Bild des schieren Ausmaßes des apokalyptischen Szenarios, ohne durch zu wörtliche und zu konkrete Umsetzung der Vorlage ihre irreale Wirkung zu nehmen. Dennoch sind die Darstellung, entsprechend des Bibeltextes, teils recht drastisch und erschreckend. Für Fans von Horror- oder Endzeitszenerien könnte Das Buch der Offenbarung auch ohne persönlichen Bibelbezug durchaus einen Blick wert sein.
Dorff, laut Selbstbezeichnung ein weltoffener Skeptiker mit Hang zu guten Geschichten und hauptberuflich Drehbuchschreiber und Produzent zahlreicher TV-Filme, bringt auch einen ganz eigenen Ansatz mit ins Projekt. Im Erzählstil der Offenbarung, die als einziger Bibeltext aus der Ich-Perspektive geschrieben ist, sieht er, wie im Anhang beschrieben, einen Vorläufer der „reaction shots“ des Kinos, der direkten Gegenüberstellung von Ereignis und Sehendem. Erst die Bildsprache des 20. Jahrhundert ermögliche so das, woran sich zuvor schon Großmeister der Kunst wie Michelangelo, Bosch oder Dürer die Zähne ausgebissen haben: Die getreue Umsetzung des Bibeltextes als Visionen eines sehenden Subjekts. „Dann sah ich, und siehe“ ist die immer wiederkehrende Sprachformel, mit der Johannes seine Offenbarungen einleitet. Das Buch der Offenbarung stellt den überwältigenden Vorgängen immer wieder den teils erschrockenen, teils ehrfürchtigen, dann wieder staunenden Blick des Johannes gegenüber und nimmt so gänzlich die Perspektive des vor fast 2000 Jahren lebenden Propheten ein.
Folgerichtig verweigern sich Dorff und Koelle einer modernisierten Interpretation der Visionen. Hinter den mythischen Bildern wie der Hure Babylon oder dem Widersacher der Christen in Gestalt des Tieres geben sich, im Einklang mit modernen theologischen Überzeugungen, das römische Kaiserreich und seine Herrscher zu erkennen. Viele andere der Metaphern und Bilder werden weitestgehend wörtlich umgesetzt, was es besonders bibelunkundigen Lesern schwer macht, das Geschehen zu deuten. Dass sich hinter dem geschlachteten Lamm Jesus verbirgt, kann man sich noch denken. Bei der eigenwilligen Zahlenmystik und den symbolisch verschachtelten Anspielungen auf zeitgenössische Ereignisse und Personen wäre ein ergänzender Kommentar allerdings wünschenswert gewesen. Aber womöglich wäre das auch dem Konzept des Buches entgegengelaufen, die Deutung des Bibeltextes mit rein visuellen Mitteln umzusetzen.
Fazit: Ein Bildgewaltiger, betörend schöner Einblick in eines der rätselhaftesten Kapitel der Bibel, der sowohl als respektvolle, werkgetreue Illustration der Vorlage wie auch als phantastisch bebilderte Schreckensvision überzeugt. Ob man sich angesichts der Thematik auf das Buch einlassen will, bleibt natürlich jedem selbst überlassen. Im Genre der grafischen Bibelumsetzungen haben Dorff und Koelle hier aber allemal einen Meilenstein geschaffen.
Wertung:
Das Buch der Offenbarung
Atrium Verlag, April 2013
Art Director: Matt Dorff
Illustration: Chris Koelle
deutscher Text nach: Martin Luther
192 Seiten, Farbe, Softcover, broschiert
Preis: 24,95 Euro
ISBN: 978-3-85535-072-8
Abbildungen: © der dt. Ausgabe: Atrium Verlag