Auf den ersten Blick wirkt die Story nicht gerade sensationell. Es handelt sich bei Leila, Chloé und Agnés um drei Mädchen, die trotz aller Unterschiede, seien es Stand, Herkunft, soziale Umstände oder Ethnie, eine Freundschaft eingehen und sich im Laufe der Jahre nie aus den Augen verlieren. Das klingt verdächtig nach erbaulicher Jugendlektüre im Sinne von Hanni und Nanni und Konsorten.
Weit gefehlt! Hier ist nichts von Romantik, Pferderücken und Mädchenklischees zu spüren, sondern es geht um ernstere Themen wie Tod, Rassismus, Vernachlässigung, Alleinerziehung, Patchworkfamilien, und und und. Im Grunde wird geschildert, wie drei Mädchen in der urbanen Welt von Paris im zwanzigsten Jahrhundert aufwachsen und daraus entsteht nicht nur ein kleines Sittengemälde, sondern – durch die verschiedenen Hintergründe der drei Mädchen mit unterschiedlichen Charakteren – auch ein Querschnitt der Gesellschaft. Da haben wir das verwöhnte, aber vernachlässigte Mädchen der Oberschicht, da eines aus der Mittelschicht mit einer alleinerziehenden Mutter und dort ein Immigrantenkind, welches sich nicht nur mit Rassismus, sondern auch mit zwei sehr unterschiedlichen Kulturen auseinandersetzen muss.
Eines wird dabei sehr deutlich: Einige der besten Geschichten schreibt das Leben selbst. Und dieser Band ist ein Meisterwerk. Das Leben ist ein Abenteuer, das mit jedem Tag neu bestanden werden muss. Kindheit in ihren unterschiedlichen Perioden und Konstellationen hat ihre ganz eigene Herausforderung und die Autoren sind immer nah dran. Sehr sensibel wird die Geschichte erzählt, ohne jemals in Extreme zu verfallen. Das tut dem Band nur gut. Niemals gerät er ins Kitschige oder Pathetische und lässt die Kinder auch nicht in bösartige Gefilde treiben, wie etwa Drogenkonsum. So ergeben sich wunderschöne, rührende, traurige und witzige Szenen.
Selten hat es ein Zeichner so gut verstanden wie Emmanuel Lepage, wichtige Akzente so verdichtet in seinen Zeichnungen zu setzen. Wie er es schafft, die ganze Konsequenz, Einsamkeit und Verzweiflung nach einer Entjungferung auf gerade mal zwei Bilder zu verdichten, ist, schreiben wir es ruhig: genial. Eine andere starke Szene kommt mit wenigen Worten aus (wie eigentlich alle der beeindruckendsten Stellen): eine Leiche wird nach traditionell arabischer Art und Weise gewaschen. Nur das letzte Panel auf der Seite zeigt frontal ein Mädchengesicht, das den Leser direkt anspricht mit den Worten: „Ich verstehe nicht.“ Den Tod einer Familienangehörigen mit all dem Schock, der Trauer, Verzweiflung und Hilfslosigkeit wird in dieser Kombination in drei Wörter gepresst. Ich wiederhole mich: genial. Eine andere Stelle sei noch explizit erwähnt: Eines der Mädchen steht an einer Ampel, die fortwährend grün zeigt. Viele gehen an ihr vorbei über die Straße. Eine Frau bleibt stehen und fragt das Mädchen, ob es sich verirrt habe. Dieses sieht erstaunt die Frau an und sagt: „Nein“, mit einem sehr traurigen Gesichtsausdruck. Denn wie kann man sich physisch verirren, wenn man ansonsten verloren ist?
Die realistischen Zeichnungen ergänzen sich hervorragend und sogar beispielhaft mit dem Text. Sie brauchen den Text auch nicht immer, weil allein durch die vielen guten graphischen Einfälle, von denen ein paar oben erwähnt wurden, zentrale und wichtige Stellen verdichtet werden. Die Farbgebung gibt auch die jeweilige Stimmung perfekt wieder.
Mit diesen Mädchen möchte man gerne sehr viel mehr Zeit verbringen. Und auch wenn Splitter die Geschichte in seiner „Books“-Reihe als dickes Buch auf den Markt bringt, hat der Band einen einzigen Nachteil: Er ist viel zu kurz. Von ganzem Herzen bekommt er die volle Punktzahl.
Wertung:
Ein Meisterwerk: Perfekte Symbiose von Text, Story, Zeichnungen und Farbgebung
Oh, diese Mädchen!
Splitter Verlag, Dezember 2010
Text: Sophie Michel
Zeichnungen: Emmanuel Lepage
144 Seiten, farbig, Hardcover
Preis: 19,80
ISBN: 978-3-940864-50-5
Leseprobe
Abbildungen © der dt. Ausgabe: Splitter Verlag
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