Dirk Bernemann, geboren 1975, ist Punkmusiker, Kolumnist, Blogger, Poetry-Slammer und Buch-Autor. Seine Bücher haben derbe Titel wie „Ich hab die Unschuld kotzen sehen“ oder „Asoziales Wohnen“ und man kann wohl davon ausgehen, dass Bernemann mit viel Wut und Leidenschaft im Herzen schreibt: Was raus muss, muss eben raus, ohne Rücksicht auf Geschmacksgrenzen. Sein Buch „Ich hab die Unschuld kotzen sehen“ liegt nun als Comicadaption vor, gezeichnet vom vielseitigen Philipp S. Neundorf, Comiczeicher aus Berlin, ebenfalls 1975 geboren, der mit dieser Adaption sein bisher wohl reifstes Werk vorlegt.
Im Frühjahr 2013 hatte ich die Chance, mit Philipp ein ausführliches Interview via E-Mail zu führen. Das Interview ging über mehrere Wochen und wurde hinterher nur leicht montiert, um die Lesbarkeit zu verbessern.
Comicgate: Dein aktueller Comic ist die Adaption des Buchs „Ich hab die Unschuld kotzen sehen“. Wie bist du auf das Thema gekommen?
Philipp S. Neundorf: Das ist eine unsexy „Kennst du jemanden, der das machen will?“–Geschichte: Ich bekam das Buch von Sebastian Oehler von Reprodukt. Dem sagte ich nach der Lektüre, dass ich mir schon vorstellen kann, das umzusetzen. Der Pitch dauerte ein halbes Jahr (in der Zeit habe ich eh nicht viel gemalt, dafür meine Raucherpause angefangen und Würstchen gegessen), gefiel aber Dirk (Autor) und Andreas (Verleger) gut genug, um sich darauf einzulassen.
Kennst du den Autor der Originalvorlage?
Mittlerweile schon. Ist auch nach Berlin gezogen, was die Zusammenarbeit erleichtert hat.
Liegt dir der Stoff persönlich am Herzen?
Hm. Ich glaub, ich hab eher mein Herz in den Stoff gepackt, um das, was ich für einen guten Comic halte, daraus zu machen.
Das Buch ist ziemlich harter Stoff: Am Anfang dachte ich, das ist mir zu krank, aber nach einiger Zeit ist der Funke übergesprungen und ich habe vieles entdeckt, das mich berührt hat.
Ja, mir ging es bei der Lektüre des Buches ähnlich. Da ich den Comic insgesamt für recht gelungen halte, finde ich das etwas schade, auch, da ich es deswegen nicht jedem unter die Nase halten kann. Allerdings sind es auch die schwierigeren Stoffe, die mich eher reizen. Das Buch – und ich hoffe, jetzt auch der Comic – zwingt dich zur Arbeit. Man kann es eigentlich nicht unverarbeitet stehen lassen.
Die Story über die Diskotänzerin in der Notaufnahme und die Geschichten um das Attentat auf die Chemiefabrik haben mich inhaltlich ziemlich überzeugt. Einen bleibenden Eindruck haben aber auch die ersten Geschichten mit dem fiesen Polizisten und seinem perversen Nazi-Vater hinterlassen. Werden diese Figuren in der Romanvorlage eigentlich noch vertieft?
Eine wirkliche Spurensuche – „was, wie, woher“ – ist das Buch, denke ich, nicht. Mehr Worte gibt es schon, dafür halt weniger Bilder.
Nach welchen Kriterien hast du die Geschichten der Vorlage ausgesucht? Da ist doch sicher vieles unerzählt geblieben. Kannst du dazu etwas sagen?
Das Buch besteht aus zwei Teilen, Kurzgeschichten und Gedichte. Die Kurzgeschichten sind alle drin, die Gedichte im Comic sind anstatt derer im Buch exklusiv von Dirk dafür geschrieben geworden. Andreas (der Mann vom Unsichtbar Verlag) dachte zu Beginn – bevor er wusste, wie lang ich an so ’nem Ding sitze – noch daran, mehrere Teile aus einem Buch zu machen. (Von den Büchern selbst gibt es drei Teile.) Das hängt auch etwas mit Dirks Sprache zusammen, die mit recht wenig Worten viele Assoziationen hervorruft. Ich dachte aber von Beginn an daran, mich eher kurz zu fassen, so knackig wie das Buch zu bleiben und nicht der Sprache hinterher zu zeichnen. Jede Geschichte auf einen visuellen Punkt bringen. Keine Replik der Originalgeschichten in Bildern, sondern eine Interpretation. Insofern gibt es schon eine Menge, was ich nicht direkt aufgenommen habe. Unerzählt ist vielleicht nicht ganz das richtige Wort. Eigentlich hoffe ich, dass es Spaß macht, Buch und Comic mal zu lesen und die Transformation zu beobachten. Auch dass ein Bild mehr als tausend Worte sagen soll, finde ich nicht, weil ein Bild eine andere Sprache spricht. Insofern denke ich, Leser des Buches müssen individuell entscheiden, was für sie unerzählt geblieben ist.
Wie viel Philipp Neundorf steckt in den Geschichten?
Als ich bei der Korrekturfahne sah, dass da mein Name zuerst steht, hab ich gesagt, dass das auch geändert werden kann. Ich steck da in zwei Schuhen, weil
– Schuh Eins: Ohne Dirks Buch gäbe es den Comic nicht. Vieles darin basiert aus Dingen aus seinem Kopf. Und mit fremden Federn möchte ich mich nicht schmücken.
– Schuh Zwei: Will ich auch nicht vor der Verantwortung wegrennen, dass ich diesen Comic fabriziert habe. Dirk und Andreas haben mir alle Freiheiten gelassen, den Comic so zu gestalten, wie ich es will und die Geschichten so umzusetzen, wie ich es für gelungen halte. Es ist das Buch durch meine Augen. Wenn man Buch und Comic vergleicht, sieht man, dass da jemand dazugekommen ist. Insofern denke ich schon, auch da steckt ein ganzer Philipp, neben einem ganzen Dirk, drin.
Wie lange hast du an dem Comic gearbeitet?
Von dem Tag, an dem ich gefragt wurde, bis zum fertigen Buch vergingen 2¾ Jahre. Ständig daran gearbeitet habe ich nicht, aber es war schon auch immer mein Wegbegleiter. Ich bin froh, diese Zeit gehabt zu haben, da die Ideen dazu wirklich gereift sind.
Wie fühlt es sich eigentlich an, so ein Projekt völlig abgeschlossen zu haben und gedruckt zu sehen?
Ich hoffe, da nicht einen Fisch in einen Teich voller Fische geworfen zu haben.
Was sind deine Einflüsse beim Erzählen?
Beim Arbeiten höre ich immer Musik. Ich liebe Improvisation und habe mittlerweile, denke ich zumindest, ein ganz gutes System, das auch im Comic auszuleben, ohne dass der 96 % Schrott dabei zu sehr stört. (Dachte, ich wäre damit revolutionär, habe aber neulich gehört, dass Moebius auch schon so Gedanken in die Richtung hatte. Gemein irgendwie. Der war wahrscheinlich auch weder der Erste noch Einzige …)
96 % Schrott?
Die genaue Prozentzahl weiß ich nicht mehr, aber Gimli meinte das zur Improvisation im Kommentar zum „Herrn der Ringe“. Trifft auf mein Arbeiten insofern zu, als dass es schon oft so losgeht: „Sieht scheiße aus, wie krieg ich das nur wieder hin …“ Dann arbeite ich so lange daran, bis ich hoffe, gerade noch so die Kurve bekommen zu haben.
Du sagtest, du hörst beim Arbeiten immer Musik und liebst Improvisation. Wer improvisiert da? Du beim Zeichnen oder der Musiker im Radio?
Wir beide …
Könntest du das ein bisschen ausführen?
Ich finde es spannend, vorher nicht zu wissen, wie das nachher aussieht. Ich will mich so lange wie möglich selber überraschen. Offen bleiben für Möglichkeiten einer Idee, die ich am Anfang noch nicht gesehen habe oder die im Laufe des Prozesses entstehen können. Gerade im Comicbereich sind Zeichner recht festgefahren. Auch, weil sie in der Regel nicht so luxuriöse Arbeitsbedingungen haben wie ich. Aber kennst du ein Buch, kennst du alle. Ich versuche zu vermeiden, so zu werden. Natürlich kann ich mich nicht immer neu erfinden. Natürlich ist das ein sehr zehrender Prozess. Musik höre ich fast immer, nicht nur beim Arbeiten. Finde ich großartig.
Luxuriöse Arbeitsbedingungen? Das musst du jetzt aber schon noch etwas genauer erklären.
Damit meine ich vor allem, Zeit zu haben. Und zwar nicht, um jahrelang an einer Zeichnung zu werkeln. Technisch habe ich den Aufwand in diesem Fall so begrenzt, dass ich theoretisch in drei, vier Monaten fertig sein könnte. Cool ist es, wenn man die Möglichkeit hat, seine Arbeit zu reflektieren, aus Boxen in denen man steckt, mal rauszukommen. Tom Waits hat sein Songwriting mal mit Angeln verglichen: Manchmal musst du halt warten, bis da was beißt. Im Comicbereich hast du diese Zeit meistens nicht. Das macht nicht unbedingt das schlechtere Produkt, aber zu viel ist sehr berechenbar.
Und welche Musik ist es, die dich inspiriert? Charlie Parker? Philipp Boa (eine CD ist im Comic abgebildet)? Nick Cave? John Zorn? Napalm Death?
Ich hör allgemein viel Musik, im Moment in der Regel immer was Neues. Ist nicht immer alles gut oder inspirierend in dem Sinn, dass man das direkt umsetzen kann. Hält mich aber wach und aufmerksam. Insofern kann ich „Welche Musik?“ eigentlich nicht beantworten. Wo ich mich besonders auskenne, ist Electronic, Metal der 90er. Und 1970 halte ich für einen Zeitpunkt, auf den sich die musikalische Entwicklung erst zu und dann wieder weg entwickelt hat. Ich halte den Blick der westlichen Zivilisation auf ihre Musik für recht arrogant, bin aber da sozialisiert. Aber auch aus China gibt es großartige Musik. Und bei Improvisation ist man schnell beim Jazz. Wobei es auch klassische Musiker (Jazzkomponisten auch …) gibt, die so was komponieren.
Hier mal zwei freie Alben: John Coltrane – One Down, One Up; Marion Brown – Afternoon of a Georgia Faun. Und was Komponiertes : Andrew Hill – Nefertiti.
Charlie Parker? – Selten. Phillip Boa? – Nein. Nick Cave? – Irgendwie nicht mehr … Seit so einem schlechten 80er Streifen, wo er mit Pistole rumrennt (bisher der einzige Film, bei dem ich das Kino verlassen habe …), denke ich auch, der ist etwas hirnlos. Gehört für mich zu den großen Selbstverrätern. Aber auch zu den Leuten, die kein Hirn brauchen, um schöne Musik zu zaubern. John Zorn? – Auch mal. Ich glaube, drei oder vier Alben hat der allein letztes Jahr rausgebracht. Schwer, komplett dran vorbeizuhören. Napalm Death? – Da ist bei mir nur Lee Dorian von übriggeblieben. Dem bin ich dafür seit – Oh nein, DONNERGROLLEN – treu. Ennio Morricone? – Ab und an. Es gibt eine sehr schöne CD, wo Yoyo Ma ihn einspielt.
Archie Shepp! Im Gegensatz zu einem ganzen Rattenschwanz an Musikern nicht auf den Esoterikzug von Coltrane aufgesprungen. Macht seit bald 50 Jahren Musik und schlägt sich erstaunlich gut. Das eindrucksvollste Gesamtwerk, das ich kenne, emotional wie intellektuell. John Escreet! Um nicht nur alte Säcke zu nennen. Low Wormwood! Weil, natürlich bin auch ich eigentlich ein Popboy …
Interessant, was du über Musik so erzählen kannst. Gute Jazz-Tipps kann ich immer brauchen.
Haha, ja, über Musik kann ich schnell ins Palavern kommen.
Ich war schon immer großer Morricone-Fan und versuche, auch die obskuren Filme mit seiner Musik zu sehen.
Hatte ich auch mal vor, auch die Filme zu sehen, meine ich. Aber bei beidem kenne ich nur die Schaumkruste der Welle …
Im Comic finden sich Verweise auf Charles Bukowski. Das ist natürlich eine naheliegende Inspiration. Bist du Bukowski-Fan?
Nein, Bukowski kommt aus dem Buch von Dirk. Zitate und Verweise sind mir aber wichtig, deshalb habe ich es übernommen. In einer Szene habe ich dann meine eigene kleine Hommage an „Big Numbers“ eingebaut. Plus den einzigen (zweizigen, aber der andere fällt noch weniger auf …) Musikverweis von mir.
Wie sieht es mit anderen Autoren in dieser Richtung aus: Irvine Welsh, vielleicht Bret Easton Ellis?
Auch nein. Ich bin vor langer Zeit zum Nichtleser mutiert. Aus so ’ner Richtung vielleicht die Songtexte von Tom Waits.
Welche Vorbilder hast du als Zeichner?
Im Moment möchte ich vor allem wie ich zeichnen. Was nicht heißen soll, dass es nicht eine ganze Menge Leute gab, die ich kopiert habe. Allerdings glaube ich, ich hatte schon auch immer meine eigenen Vorstellungen. Bin ein dickschädeliger Typ.
Ein kurzer Abriss an Comiczeichnern durch mein Leben: Chris Scheuer, Simon Bisley, Bill Sienkiewicz, Dave Mc Kean, Ashley Wood, Sergio Toppi (Aus-dem-Stand-Erinnerung ohne Nachschlagen, Mann – okay, ich – vergisst ja soo viel …)
Eine Inspiration von Ashley Wood kann ich in deinen Zeichnungen, vor allem in deinen gemalten Sachen, durchaus nachvollziehen, ohne dass es kopiert wirkt. Aber täusche ich mich, oder sehe ich auch eine Inspiration durch Ted McKeever? Die „Hässlichkeit“ mancher Figuren, die Gesichter und die Körper erinnern mich an die Vertigo-Comics Junk Culture und The Extremist.
Ted Mc Keever? Musste ich ehrlich gesagt nachschauen, um zu sehen, was du meinst. Hab’s auch erst beim Extremist verstanden, hatte davor Metropol gegriffen und da noch nicht. Ist eher nicht so wichtig für mich und hat mich überrascht, so als Vergleich. Auf der Releaseparty zum Comic meinte jemand, ihn würde das Buch an Frank Miller erinnern. Finde ich auch interessant. Aber ich glaube, wenn man andere Sachen von mir sieht, dann fallen einem andere Assoziationen in den Kopf.
Wo kann man Material von dir kennenlernen?
psnaddw.deviantart.com (Bin aber lausig, das irgendwie up to date zu halten …)
Wo liegt dein Lebensmittelpunkt (persönlich wie beruflich) und welchen Stellenwert haben Comics in deinem Leben?
– Lebensmittelpunkt persönlich: Meine Familie, Yee Lee (Dame des Herzens) und Luis (fast 2 jähriger Terrorist (des Herzens?))
– Lebensmittelpunkt beruflich: Beim Malen und Zeichnen. Irgendwas gibt es immer, meine Schubladen sind voll
– Comics: Als Yee Lee mich fragte, ob ich meine CDs oder aber Comics auspacken will, entschied ich mich für Zweiteres. Mittlerweile sind wir umgezogen, und es durfte beides raus. Auch zeichne ich sie inzwischen mehr, als dass ich sie lese. Oder ich lasse mich von meinem Lebensmittelpunkt(en) terrorisieren …
Was hältst du von Literaturadaptionen im Comic?
Da bin ich recht gefühlslos. Wenn mich das Endprodukt überzeugt, ist es mir eigentlich egal, woher es kommt. Was ich kenne, ist die Lust an einem Stoff, der nicht der eigene ist. Muss nicht unbedingt aus demselben Medium kommen. Man hat einfach manchmal das Gefühl, da will man selber auch mal ran. Das ist ja irgendwo die Grundmotivation, jeden Tag aufs Neue an den Stift zu gehen, um wieder mal
eine Figur zu zeichnen: Vielleicht klappt es ja diesmal, den Menschen ganz, ganz neu zu entwerfen …
Arbeitest du mit Computer oder ist bei dir alles handgemacht?
Bei „Ich hab die Unschuld kotzen sehen“ ist der Großteil handgemacht. Am Computer kam das Rot und das Lettering dazu. Plus kleine Edits in den Inks.
Der Syndala-Schriftzug im Buch ist echt mundgemalt. Gar nicht so einfach, besonders wenn man zum Brechreiz tendiert. Ansonsten arbeite ich viel mit dem Computer. Im Allgemeinen ist die Arbeitsteilung: zeichnen von Hand, alles Weitere am Computer.
Wie groß sind eigentlich deine Originalbilder?
In diesem Fall sind die meisten Originalzeichnungen auf A5. Ein File hat dann die Länge von 5100 Pixeln. Meistens zeichne ich auf A4, das passt gut in meinen Scanner. Ich überlege aber gerade, das mal wieder zu ändern … Gemalt habe ich schon in vielen Größen. In unserem Wohnzimmer hängt ein 150 cm x 150 cm Schinken …
Nimmst du auf die Verkleinerung bei der Drucklegung Rücksicht oder nimmst du es, wie es kommt?
Nehm‘ ich, wie es kommt beziehungsweise überlege mir, wie das nachher aussehen soll. Für „Ich hab die Unschuld kotzen sehen“ habe ich mir einen Look überlegt und darauf hingearbeitet. Anderes Projekt, anderer Look.
Verkleinerung ist in der Regel auch kein Problem. Interessanter werden Vergrößerungen. Für die Releaseparty hatten wir Geschichten aus dem Buch auseinandergenommen und anders präsentiert. Ich empfinde es als spannend, wie sich die Dynamik einer Geschichte so verändern kann. Und natürlich, wie sich die Grafik verändert. Und natürlich habe ich so was auch schon vorher im Kopf. (Was, natürlich zum dritten Mal, nicht heißt, dass das auch immer funktioniert.)
Vielleicht könntest du noch etwas über deine künstlerische Biografie erzählen?
Da gibt es nicht viel zu erzählen. Und mit verzweifelten Versuchen (sollte ich vielleicht nicht verzweifelt versuchen …), so was spannend zu machen, tue ich mich schwer. Man kann sich mich als übelsten Autodidakten vorstellen, der all das macht, was einem sein Zeichenlehrer verbietet.
Wann hast du mit Zeichnen begonnen und seit wann verfolgst du damit professionelle Ziele?
Irgendwie gezeichnet und gemalt habe ich schon immer. Dann hatte mal eine damals sehr gute Freundin gemeint, Malen sei ja mein Hobby. Und mir fiel auf, dass ich das nicht so wollte. Von da an habe ich angefangen, alles andere hinzuschmeißen und nur noch zu malen. Seit circa 2000 mache ich das Vollzeit. Ich habe für Truckerfahrer und für Weltmarktführer gearbeitet. Professionelle Ziele? Vielleicht verfolgen die eher mich. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es einen Künstler gibt, der sich nicht mal vorstellt, der Rocker zu sein, dem alle zu Füßen liegen. Oder zumindest von seiner Kunst zu leben. Zweiteres will ich zwar schon; dass das mein unbedingtes Ziel ist, kann ich aber nicht sagen. Aber ich habe schon eine Vorstellung von professionellem Arbeiten, denke, ohne kommt man nicht weit und ich will schon Produkte herstellen, die ordentlich gemacht sind.
Sebastian Oehler von Reprodukt, der mir auch diesen Comic vermittelt hat, hätte mir auch mal einen Pitch für Marvel betreut. Bei der Arbeit daran ist mir aufgefallen, dass das Schlimmste, was mir passieren kann, wäre, die würden mich tatsächlich anheuern. Zwischen mir und denen liegen die professionellen Ziele auf unterschiedlichen Scheiben (und die wahrscheinlich noch mal in unterschiedlichen Existenzebenen …). Kunst ist für mich auch ein Selbstfindungsprozess. Und ein Lernprozess, mit dem Gefundenen professionell umgehen zu können.
Was sind deine weiteren Pläne? Etwas Ähnliches oder stattdessen lieber ein neues Genre?
Bisher hatte ich immer die Möglichkeit, Neues auszuprobieren. Fände ich nicht schlecht, wenn das so bleibt. Ich muss noch mein 20-Jahre-Fantasyepos zu Ende bringen (Stand ungefähr Jahr 5 …). Mir spinnt auch die Idee für ein Kinderbuch im Kopf rum. So planlos wie ich bin, wird schon was passieren …
Du bist ein Comiczeichner in Berlin. Gibt es da regelmäßige Kontakte zur Zeichnerszene, Stammtische oder gemeinsame Auftritte auf Börsen und in Comicläden?
Regelmäßige Kontakte habe ich nicht viele. Ein Grund ist, dass sich die INKplosionsrunde aufgelöst hat. Ein anderer ist, dass meine Projekte recht aufwändig sind. Da bleibt leider nicht mehr viel Zeit übrig. Und dann habe ich ja auch eine lustige Familie. Der Spaß da drückt sich auch in Stunden aus. Insgesamt bin ich nicht so ein extrovertierter Typ. Und in Szenen oder an Tische passe ich oft nicht so recht rein oder ran.
Wie sieht ein Arbeitstag von dir aus?
Ha! Arbeitstage! Those were the days. Seit Luis da ist, habe ich eigentlich keine vollen Arbeitstage mehr. Mit etwas Glück komme ich auf sechs bis acht Stunden, meistens weniger. Manchmal sehne ich mich danach, wieder rund um die Uhr in meiner Kunst zu stecken. Hausmann macht aber auch Spaß. Ist halt anders.
Ein Tagesablauf hier gestaltet sich gerade so: aufstehen, einkaufen, frühstücken, arbeiten, Mittag, arbeiten, Luis, kochen, Abendessen, abschalten, schlafen, zurück zu aufstehen. Arbeiten ist ein recht flexibler Begriff. Das ist das Schöne an meinem Beruf. Mal ist es Tippen wie hier, mal Film gucken, mal surfen im Internet, mal Recherche, mal zeichne ich wirklich was. Ich kann recht viel Spaß haben, interessante Dinge tun. Was Arbeit wird, entscheidet sich oft erst viel später. All die genannten Dinge können aber auch gleich Arbeit sein. Dann fühlen sie sich etwas schwerer an. Und es gibt so Zeugs wie Rechnungen schreiben, Festplatte aufräumen, Dateien zum Verschicken vorbereiten oder oldschool in der Postschlange stehen. Vorkolorieren, scannen oder stundenlang Fenster von Hochhäusern zeichnen. Manchmal wünsche ich mir, ich könnte mir einen Praktikanten leisten. Andererseits bin auch ein bisserl stolz, dass alle meine Sachen bis hier hin selbstgemacht sind. Sie haben quasi eine Stempel drauf: Hier schuftet der Künstler selbst!
Wow. Danke für das äußerst unterhaltsame Interview. Ich werde mit Sicherheit in Zukunft nach weiteren Werken von dir Ausschau halten.
Ich hab die Unschuld kotzen sehen
Unsichtbar Verlag, März 2013
Dirk Bernemann, Philipp S. Neundorf
96 Seiten, Hardcover, schwarz-weiß-rot
auf 2000 Exemplare limitiert
ISBN: 978-3-942920-19-3
- Verlagsseite zum Buch (Ubooks)
Selbstverständlich ist das ganze INK-Archiv eine Fundgrube und es lohnt sich, sich damit ausführlich zu beschäftigen.
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