In dem Haus, in dem Alison Bechdel ihre Kindheit verbrachte, gab es einen kleinen Raum mit zwei Türen, eine nach draußen und eine ins Innere des Hauses. An den Wänden hingen sich zwei Spiegel gegenüber, in denen man sich in unendlicher Doppelung sehen konnte, jeweils abwechselnd von vorne und hinten. Alison Bechdel (Fun Home) war fasziniert von diesem optischen Effekt und sah darin bereits in früher Jugend ein Erklärungsmuster für ihr Leben: In der mit dem Rücken zugewandten Spiegelung sah sie die nach vorne blickende Alison, in ihrem entgegengesetzten Spiegelbild die entgegengesetzte Inkarnation ihrer selbst, den Teil ihrer Persönlichkeit, der ihrer Entfaltung entgegensteht und Entwicklung verhindert.
Dieses Bild, das in Alison Bechdels Buch Wer ist hier die Mutter? erst spät kommt, ist in vielerlei Hinsicht programmatisch. Zum einen kreist es, wie das ganze Buch, um die Autorin und ihre inneren Zustände. Zweitens ist es ein Bild, das eine Erklärung für ihre Wesenszüge liefert. Drittens, und das ist entscheidend, ist es eine mehr oder weniger willkürliche Erklärung. Sie ist keineswegs zwingend oder folgerichtig, sie ist einfach nur ein kreatives Aufgreifen und Verarbeiten eines Phänomens, das rein zufällig eine Entsprechung in Frau Bechdels Innenleben zu haben scheint.
Wer ist hier die Mutter? ist voll mit solchen Interpretationen, mit denen Alison Bechdel ihrem Leben sowie ihrer Beziehung zu ihrer Mutter einen Sinn zu geben versucht. Neben ihrer eigenen Phantasie sind es Interpretationshilfen aller Art, die sie dabei unterstützen, so z.B. die Sitzungen mit ihrem Psychotherapeuten, die Schriften C.G. Jungs und Sigmund Freuds, Alice Millers Aufsatz „Das Drama des begabten Kindes“ sowie die Biographien Virginia Woolfs und des Psychoanalytikers und Kinderarztes Donald Winnicott, um nur die wichtigsten Einflussquellen zu nennen.
Als sie beispielsweise ein Bildserie von sich als Baby im Spiel mit ihrer Mutter sieht, sieht sie den Beweis für Donald Winnicotts These, die Mutter und ihr Kind seien auch Monate nach der Geburt noch eine symbiotische Einheit, die untrennbar zusammengehört. Auf einem Bild dieser Fotoserie allerdings ist die Symbiose gestört: Das Baby hat den Fotografen, den Vater, entdeckt, wodurch die magische Verbindung zur Mutter zusammenbricht. Der Vater ist gemäß dieser Erklärung der Eindringling und Störenfried – und wird es Zeit seines Lebens bleiben.
Aber sind das nicht willkürliche Erklärungen, die zur Sinngebung des Lebens erst konstruiert werden? Sind die Zusammenhänge nicht nur herbeigeredet? Gerade zu der Zeit, als Alison Bechdel ihre Familienverhältnisse ganz genau betrachten möchte, läuft sie mit dem Kopf gegen ein Brett und erhält eine Wunde, die sie als drittes Auge interpretiert, mit dem man nach „Innen“, ins Unterbewusste, sehen kann. Kurz danach trifft sie ein spitzer Zweig im Auge: Das interpretiert sie als Strafe, weil sie die Wahrheit über ihre Familie gesehen hatte, wie Oedipus, der sich selbst die Augen aussticht.
Das kann man natürlich auch als Nabelschau bezeichnen. „Nimm dich nicht so wichtig und fang an zu leben“, möchte man ihr manchmal zurufen, befremdet, dass jemand gedanklich derart um sich kreist. Alison Bechdel macht sich konsequent selbst zum Objekt ihrer Arbeit und man befürchtet fast, dass sie sich in einen Teufelskreis hineinmanövriert: Einerseits will sie Komplexe aufarbeiten, andererseits sind die Komplexe die Quelle ihrer Arbeit, die nicht versiegen darf, und die es deswegen zu kultivieren gilt. Im Gegensatz zu Underground-Zeichnern wie Chester Brown oder Joe Matt ist Bechdels Ansatz allerdings weniger exhibitionistisch und vielleicht daher auch weniger peinlich. Während bei vielen Underground-Zeichnern der ungefilterte Seelenstriptease im Focus steht, ist es bei Alison Bechdel die intellektuelle Reflexion über ihre inneren Zustände. Am Ende gibt es sogar eine befriedigende Auflösung, so dass der Comic, obwohl weitgehend ohne Plot, eine angenehme Geschlossenheit besitzt.
Wer ist hier die Mutter? erinnert mich an Uwe Timms biografische Erzählungen Am Beispiel meines Bruders und Der Freund und der Fremde, weil es keine geradlinige Biografie erzählt, sondern stets um seinen Gegenstand kreist und dabei an immer wiederkehrenden Momenten und Motiven anhält. Dazu gehört auch die konsequente Komposition der Kapitel, die stets mit einer zweiseitigen Traumsequenz anfangen und, von dort ausgehend, dann scheinbar frei assoziierend weiterentwickelt werden mit allen Querbezügen und Anekdoten, die sich unterwegs wie beiläufig ergeben. Das Buch ist autobiografisch, das stimmt, aber es ist auch streng den Ideen, die Bechdel zum Zeitpunkt des Erzählens wichtig sind, untergeordnet.
Zunächst hielt ich das Buch für deprimierend und Alison Bechdels Neigung, jede Lebensäußerung zu interpretieren, unangemessen zwanghaft. Mit zunehmender Lektüre fiel mir aber auf, dass es sich erfüllend anfühlen kann, wenn man in scheinbar willkürlich stattfindenden Ereignissen wiederkehrende Muster erkennt, die interpretiert werden können. Als ich das erkannte, war mir klar, dass das Buch bei aller Freude am Gedankenspiel doch eine ganz eigene Art von Lebensfreude vermittelt, zumal die Muster sich am Ende tatsächlich zu einem schlüssigen und befriedigenden Ganzen fügen.
Sehr positiv fällt auch die hervorragende Übersetzung auf. Man merkt, dass hier viel Arbeit investiert wurde.
Wertung:
Eine fordernde Lektüre, der man die Lust am Denken und am Erzählen auf jeder Seite abnimmt, sofern man sich auf die Ideen einlässt.
Wer ist hier die Mutter? Ein Comic-Drama
Kiepenheuer & Witsch, April 2014
Text und Zeichnungen: Alison Bechdel
Übersetzung: Thomas Pletzinger, Tobias Schnettler
248 Seiten, Schwarz-Weiß mit Rot, Hardcover
Preis: 22,99€
ISBN: 978-3-462-04618-2
Leseprobe
Abbildungen: © der dt. Ausgabe: Kiepenheuer & Witsch