Rezensionen

Der Ausreißer

Cover Der AusreißerEigentlich ist es verwunderlich, dass gerade der autobiografische Comic so starke Popularität erlangt hat. Es scheint ja irgendwie schwer vorstellbar, ein langweiligeres Thema für einen Comic zu finden als einen Comiczeichner. Was tun diese bedauernswürdigen Individuen denn schon Spannendes? Sie sitzen in ihrem Zeichenstudio und füllen weiße Seiten mit schwarzen Strichen. Den ganzen Tag lang. Spät nachts gehen sie schlafen, und morgens stehen sie wieder auf, um die selbe Prozedur des Vortages zu wiederholen. Nichts, worüber sich zu erzählen lohnen würde.

Gut, das mag eine grobe Verallgemeinerung sein. Sie nähert sich aber erstaunlich weit konkreten Lebenssituationen an, wenn man den Blick auf die japanische Manga-Industrie richtet. Um in der durchkommerzialisierten Branche bestehen zu können, stemmen einschlägige Autoren gerne um die hundert Seiten im Monat, besonders wenn man bedenkt, dass nicht alle produzierten Seiten letztendlich auch im Druck landen. Urlaub Fehlanzeige. Wer für ein Wochenmagazin arbeitet, muss pünktlich jede Woche rund 20 Seiten abliefern – teils über Jahrzehnte hinweg. Manche haben mehrere Serien laufen und arbeiten nebenbei noch an Kurzgeschichten. Osamu Tezuka soll in seinem – leider viel zu kurzen – Leben über 100.000 Seiten produziert haben. Und er ist vielleicht der populärste, aber sicher nicht der produktivste Manga-Künstler Japans.

Wo soll in so einem Leben Platz für eine spannende Geschichte zu finden sein? Yoshihiro Tatsumi nimmt in A Drifting Life sein eigenes Schicksal lediglich als Aufhänger, um über die Umbrüche der frühen Manga-Industrie, die Lebenssituation im Nachkriegsjapan und den immerwährenden Konflikt zwischen künstlerischer Ambition und kommerzieller Anforderung zu sinnieren. Sein Werk ist nur oberflächlich Autobiografie, denn letztendlich geht es Tatsumi nicht um seine eigene Person, sondern um die vielen Dinge, mit denen er in Berührung gekommen ist, und wie sie zusammenhängen. Das größere Ganze sozusagen, aber ganz unprätentiös vom eigenen Leben her abgeleitet.

Seite aus Der AusreißerMit Hideo Azuma verhält es sich da etwas anders. in Der Ausreißer beschäftigt sich Azuma tatsächlich weitestgehend mit sich selbst. Das heißt natürlich nicht, dass Azuma im Subtext nichts über die Welt um ihn herum zu sagen hat. Aber in erster Linie schreibt Azuma über Azuma. Wie in einer richtigen Autobiographie, sozusagen. Und dennoch kommt am Ende etwas völlig anderes dabei heraus.

Aber eins nach dem anderen. Hideo Azuma ist hierzulande ein weitestgehend unbeschriebenes Blatt. Tatsächlich ist Der Ausreißer der bisher einzige in Deutschland erschienene Titel von ihm. In Japan allerdings zählte er in den 70ern und 80ern zu den populärsten und produktivsten Manga-Zeichnern. Seine Bandbreite reicht von Science-Fiction über Comedy hin zu erotischen Inhalten – oft auch bunt miteinander gemischt. Seine Werke sind quintessenzielle Manga: bunt, albern, unterhaltsam und schnell produziert, aber selten das, was Comic-Snobs hierzulande mit „Hochkultur“ verbinden würden. Azuma war unter anderem einer der Vorreiter der Lolicon-Bewegung. Lolicon, das steht für „Lolita complex“ und meint, im Kontext japanischer Manga, die Dastellung junger, erotischer Mädchen, insbesondere in notorischer Verbindung mit japanischen Schuluniformen. Also definitiv nichts, was die hiesige Tagespresse so schnell als Graphic Novel durchwinken würde.

Seite aus Der AusreißerIrgendwann jedoch – und da setzt seine Autobiographie erst an – ist Azuma angesichts der harten Anforderungen seines Mangaka-Alltags ausgebrannt, überarbeitet – wie so viele seiner Kollegen. Seine Reaktion ist jedoch ungleich radikaler: Azuma nimmt, wie der Titel vermuten lässt, Reißaus. Er lässt seine Familie und zahlreiche laufende Serien zurück, ohne jemandem Bescheid zu sagen, und zieht, als er all sein Geld für Alkohol verprasst hat, in einen Wald nahe einer Kleinstadt. Hier lebt er einige Zeit als Obdachloser, wird von der Polizei eingefangen, nur um einige Zeit später erneut auszubüchsen, arbeitet später einige Zeit als Gasinstallateur auf einer Baustelle und landet letztendlich Dank seines zunehmenden Alkoholismus in Psychiatrie und Entzugsklinik.

Man merkt, Azuma entgeht dem Problem der Banalität des Zeichnerjobs, indem er so ziemlich über alles schreibt, nur nicht über das Manga-Zeichnen. Lediglich zu Beginn des letzten Drittels fasst er, äußerst knapp, seine Zeichnerkarriere zusammen – offensichtlich auf ausdrücklichen Wunsch seines Redakteurs. (Azuma kommentiert das im Manga mit „Finde ich nicht so gut. Das fällt unter Memoiren.“)

Keine Memoiren also. Azuma hält seine eigene zwischenzeitliche Popularität weitestgehend aus dem Buch heraus, auch wenn es konkret um seine Karriere geht. Gleichzeitig macht er den gewaltigen Druck, der auf ihm als Zeichner lastete, an keiner Stelle für sein Schicksal verantwortlich. Die wahre Qualität von Der Ausreißer liegt aber in einem anderen Punkt: Statt dem Leser seinen tragischen Lebenswandel in ausufernden Elendsdarstellungen auszubreiten, gestaltet Azuma seinen Abstieg zur Komödie. Und es ist eine großartige Komödie!

Seite aus Der AusreißerGleich im Prolog schreibt Azuma, dass sein Manga „eine positive Weltsicht“ einnimmt, denn „zu viel Realismus hält der Mensch nicht aus“. Dieser Vorgabe folgend reduziert Azuma seine Schicksalsschläge (wenn man sie überhaupt so nennen kann, denn Azuma macht nie einen Hehl daraus, dass seine Lebenslagen aus eigenen Entscheidungen entsprungen sind) auf teils brüllend komische Anekdoten voller absurder Figuren und Geschehnisse. Am unterhaltsamsten ist dabei sicherlich das erste Drittel des Manga, das sich auf Azumas Existenz als Obdachloser konzentriert. Mit viel Einfallsreichtum und Raffinesse gestaltet er seine Obdachlosigkeit zum Schlaraffenland um. So erfahren wir unter anderem, wie man mit Hilfe von Zeichenutensilien Kochwerkzeuge herstellt und wie Frittieröl bei Verstopfung helfen kann. Azuma wird hier zu so etwas wie einem Buster Keaton des Manga, der auf jede knifflige Situation die passende Idee parat hat.

In den späteren Teilen, die nachfolgend seine Arbeit auf der Baustelle und schließlich sein Abgleiten in den Alkoholismus (mit dem kurzen Umweg über seine frühe Zeichnerkarriere) schildern, rückt dieser sprühende Ideenreichtum leider ein wenig in den Hintergrund. Azuma wird zusehends zu einem passiven Spielball äußerer Umstände, auch wenn das Dank seines grundsympathischen Erzählstils nur wenig Auswirkung auf den Unterhaltungswert hat. Der Humor kommt Azuma im ganzen Manga nicht abhanden. Besonders die zahllosen Nebenfiguren mit all ihren eigenwilligen Macken sorgen immer wieder für Lacher. Deswegen scheut er es aber auch nicht, die Konsequenzen seiner Alkoholkrankheit mit aller nötigen Drastik zu beschreiben.

Getreu seinem Motto „realistische Zeichnungen würden mich nur deprimieren“ wählt Azuma für sein Werk den Cartoon-haften Stil von Gag-Manga mit starken Vereinfachungen, runden Konturen und vielen Panels, der Europäer wohl unweigerlich an westliche Funnys erinnert, tatsächlich aber auch in Japan besonders in Zeitungs-Mangastrips stark verbreitet ist. Die Zeichnungen sind jedenfalls besonders für Nicht-Mangaleser ausgesprochen zugänglich. Fans von bei uns verbreiteten Manga werden hingegen die extremen Ästhetisierungen und Details der hier bekannten Erfolgsserien vermissen.

Seite aus Der AusreißerInsgesamt ist die Erzähldichte durch die aufs Wesentliche konzentrierten Anekdoten und die im Schnitt etwa 12 Panels pro Seite extrem hoch, weswegen man auf den knapp 200 Seiten mehr als genug für sein Geld bekommt. Wer sich von dem Buch allerdings, ergänzend zu A Drifting Life, einschlägige Erkenntnisse über den Lebensalltag eines Mangazeichners erwartet, wird wohl eher enttäuscht sein. Auf den 18 Seiten, die Azuma widerwillig seiner Karriere widmet, findet sich zwar viel Unterhaltsames, aber wenig Informatives. Die Erkenntnis, dass das Zeichnen von 130 Seiten im Monat früher oder später zum Burnout führt, ist nicht wirklich überraschend. Sie liefert aber natürlich eine wie ungewollt nachgereichte Rechtfertigung für seine anfänglichen Ausrisse.

Offensichtlich erscheint die ganze Manga-Thematik Azuma selbst nicht sonderlich erwähnenswert. Bemerkbar macht sich das auch ein einem markanten Indikator: War Osamu Tezuka bei Tatsumi noch gezielt Anfangs- und Endpunkt von A Drifting Life und damit das große Fundament nicht nur seiner Erzählung, sondern anscheinend auch seiner eigenen Existenz als Mangazeichner, reduziert Azuma den obligatorischen Tezuka-Auftritt auf eine zwei Panels umfassende, völlig beiläufig eingestreute Anekdote. Manga ist gar nicht so wichtig, scheint er uns sagen zu wollen. Das wird alles viel zu ernst genommen. Und zu viel Ernsthaftigkeit deprimiert am Ende nur.

Die deutsche Ausgabe von Shodoku/Schreiber & Leser in japanischer Originalleserichtung ist sehr liebevoll aufgemacht und übersetzt. Man hat sogar ein geheimes Interview mit Azuma im Buch versteckt, das nur lesen darf, wer es findet. Na wenn das kein Service ist!

 

Wertung: 9 von 10 Punkten

Autobiografisch, witzig, sympathisch, drastisch, großartig.

 

Der Ausreißer
Shodoku/Schreiber & Leser, 2007
Text und Zeichnungen: Hideo Azuma
192 Seiten, schwarz-weiß, Softcover
Preis: 14,95 Euro
ISBN: 978-3-937102-70-2
Leseprobe

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Abbildungen © der dt. Ausgabe: Schreiber & Leser