Noch bevor man aber an der Geschichte teilnehmen kann, die Hoven erzählen will, ja sogar noch bevor man das Zitat von Woody Allen („I wondered if a memory is something you have or something you lost.“) liest, betrachtet man perplex die Früchte ihrer Arbeit. Es ist die Technik, die zunächst im Vordergrund steht, und an die man sich erst mit zunehmender Seitenzahl gewöhnen muss. Wenn man an andere Comics denkt, die aus Schabkarton gekratzt wurden, fallen einem eigentlich nur die Arbeiten des Schweizers Thomas Ott ein. Ott hat sich im Laufe des letzen Jahrzehnts den Schabkarton für seine teilweise sehr blutrünstigen Geschichten zu eigen gemacht. Doch während er den schwarz-weißen Humor für seine makabren Horrorgeschichten ganz im Geiste der EC-Comics verwendet, geht Hoven dazu über, mit dem Schaber den Staub der Vergangenheit auf ihrer eigenen Familienbiographie wegzukratzen.
Man folgt Hovens Schaber über die Seiten und kommt aus dem Staunen nicht heraus, wie präzise die Kunststudentin mit dem Gerät umgeht. Oft bleibt der Blick länger an der Konstruktion der Hausecke hängen als an der Handlung selbst. Auch die Sprechblasen wirken nicht wie ein Teil der Handlung. Diese schwarzen, geometrisch exakt geformten Gebilde tauchen vor einer Häuserwand und über dem Küchentisch auf, ganz als ob sie selbst Teil der Einrichtung wären. Sie erzeugen durch ihren schwarzen Hintergrund und ihre Formen ein Negativ der herkömmlichen Sprechblasen und reißen den Leser so aus der von Hoven erschaffenen Welt heraus.
Die zweite Eigenart an Hovens Geschichte ist die Benutzung von Schriftstücken und Fotos, die sowohl Wendepunkte in der Handlung symbolisieren, aber auch den Fluss der Narration unterbrechen. Jedes neue Kapitel wird nicht durch eine Überschrift oder einen Titel eingeleitet, sondern durch ein voranstehendes Dokument. So beginnt die erste Geschichte mit dem Hitlerjugend-Ausweis des Jungen Erich Hoven, Lines Großvater. Dieses Schriftstück hat Hoven mit aller Sorgfalt gestaltet, so dass nicht nur Schrift und Foto auf dem Pass, sondern auch die Maserung und der HJ-Stempel detailgetreu nachempfunden sind.
Nach dem Abschluss der ersten Episode über die Nazizeit unterbricht Hoven den Fluss ihrer Erzählung und fügt weitere Familienfotos hinzu. Diese Bilder und andere Schriftstücke dienen aber nicht nur dazu, fixe Eckpunkte in einer Vergangenheit zu verorten, sondern gerade um bestimmte Erinnerungsfragmente von der Handlung auszuschließen. So weist gerade ein fehlendes Foto, gekennzeichnet durch die übrig gebliebenen Fotoecken und eine Beschriftung im Fotoalbum, auf Brüche innerhalb der Handlung hin. Der Text verrät uns, dass sich Hovens Großeltern im Sommerlager der Hitlerjugend kennen gelernt haben: „Erich & Irmgard im Sommerlager der Hitlerjugend“. Gerade dieser bewusste Akt der Ausblendung von Information hinterfragt jegliche Form von Erinnerung, die auf solche Fotos gestützt ist.
Der Charakter des Fotoalbums wird mit der Einteilung der Kapitel durch Schriftstücke und Fotos verstärkt. So ist Hoven in der Lage, große Sprünge innerhalb der Chronologie durch diese Artefakte, wie z.B. den Bestellschein für einen Waschvollautomaten, zu überbrücken und der gesamten Geschichte so Konsistenz zu verleihen. Nachdem die Geschichte vom deutschen Jungen Erich Hoven endet, leiten zwei Tickets zum Eislaufen die Romanze der amerikanischen Großeltern mütterlicherseits ein. Im Gegensatz zu anderen Erzählern, bei denen gerade die Geschichten den Weg zum Vergessenen weisen, hat Hoven ihre eigene Form der Konservierung von Erinnerung gefunden. Während die Erinnerungen verblassen und die geschabten Spuren im Eis langsam verschwinden, hinterfragt Hoven gerade durch ihre fragmentierte Erzählung die Formen des Erinnerns. Erst durch diese Bruchstückhaftigkeit verwandelt sich Liebe schaut weg in eine Art Fotoalbum, dessen Handlung bei der ersten Lektüre recht verwirrend wirken mag, dem beim zweiten und dritten Lesen aber der ganze Charme einer verstaubten Familienchronik anhaftet.
Obwohl Line Hoven keine große Geschichtenerzählerin ist, verhilft sie mit ihrem Werk der Technik des Schabkartons im Medium Comic zu einer kleinen Renaissance. Der Comic liest sich wie ein altes Fotoalbum, das man irgendwo auf dem Dachboden gefunden und vom Staub befreit hat. Die Personen, die dort zu sehen sind, sehen einem auf eine fast schon unheimliche Weise ähnlich, doch kennt man sie nur entfernt. Ein kleines Manko an diesem Comic ist aber leider der Titel Liebe schaut weg: Obwohl die Geschichten vom Liebesuchen und -finden handeln, ist der von Hoven im Titel angesprochene Zwiespalt nicht wirklich existent.
Liebe schaut weg
Reprodukt, Oktober 2007
Szenario und Zeichnungen: Line Hoven
Softcover; schwarz-weiß; 80 Seiten; 14,00 Euro
ISBN: 3-7704-3121-9
Bildquelle: www.reprodukt.com