Frank Giroud ist zwar als Autor schon ein alter Hase – er textete seit 1982 die Serie Louis Lerouge, die zwischen 1989 und 1992 bei Ehapa erschienen ist -, doch gelangte er erst in jüngerer Zeit mit seiner Serie Die zehn Gebote (Comicplus+ 2001-2006) zu Bekanntheit und Ruhm. 2002 wurde ihm in Erlangen sogar der Max-und-Moritz-Preis als bester internationaler Szenarist überreicht. Seine Spezialität sind Thriller in historischen oder zeitgenössischen Settings mit politisch brisanten Kontexten. Die zehn Gebote feierten nicht zuletzt wegen ihres ungewöhnlichen Konzeptes so große Erfolge: Jeder der zehn Bände war von einem anderen Zeichner ausgeführt.
Dieses Konzept wendet Giroud nun in der fünfteiligen Serie Quintett erneut an, wobei es hier nicht nur als eine unterhaltsame Raffinesse dient, sondern einen zentralen Aspekt der Serie illustriert. Die einzelnen Bände der Serie decken nämlich mit ihrer Erzählung immer wieder denselben Zeitraum und dasselbe Geschehen ab, eine Episode auf dem mazedonischen Militärflughafen Pavlos im Jahr 1916.
Dort formiert sich ein international zusammengewürfeltes Quintett aus Militärs (Leutnant Alban Méric an der Violine und der Mechaniker Elias Cohen Klarinette), einer griechischen Mandolinistin (ich lege meine Hand nicht ins Feuer, dass das eine Mandoline ist; es ist auf jeden Fall keine Gitarre – und so was hat zwei Semester Instrumentenkunde studiert, Schande!) und der Pariser Kabarettsängerin Dora Mars. Der Pianist wird (bisher) nicht namentlich genannt und ist auf den Bildern nie zu sehen.
Jedes Mitglied dieser Musiktruppe erzählt seine Version der Ereignisse in einem eigenen Band. Die individuelle Sicht auf die Ereignisse wird durch den Wechsel der Zeichner von Band zu Band sehr schön veranschaulicht. Es sind zwar immer dieselben Schauplätze und Figuren, aber diese erhalten in den unterschiedlichen Zeichenstilen verschiedene Ausprägungen und Eigenschaften. Das macht diese Serie ungeheuer interessant.
Im ersten Band wird “Die Geschichte der Dora Mars” erzählt. Nach einer leidenschaftlichen Nacht mit dem Flieger Armel Flamant in Paris ist die romantische Dora hoffnungslos verliebt. Als man ihr anbietet, auf einem Militärstützpunkt für die Soldaten zu singen, wählt sie Pavlos aus, ein mazedonisches Dorf, wo ihr Prinz stationiert ist. Und das, obwohl er ihre Briefe monatelang nicht beantwortet hat. Dort tritt freilich zunächst eine gewisse Ernüchterung ein, als sie realisieren muss, dass Armel ihre romantischen Vorstellungen von Liebe nicht teilt. Sie nimmt bei dem Mechaniker Elias Cohen Flugstunden, und als Flamant über deutschem Gebiet abgeschossen wird, startet sie eine von naiver Romantik motivierte Rettungsaktion, in die sie Cohen mit reinzieht. Es gelingt ihnen tatsächlich, Flamant zu finden, aber dabei geraten alle drei in Gefangenschaft. Dora spielt weiter die Heldin, indem sie auf die Bitte des deutschen Mayor Quantmeyers eingeht und ein Konzert für die feindlichen Soldaten gibt, eine Ablenkung, die die Gefangenen zur Flucht nutzen wollen.
Damit genug der Handlungsparaphrase, alles weitere würde zu Spoilern führen. Nur soviel: Es sind drastische Ereignisse vonnöten, um die Sängerin von ihrer Vorstellung zu heilen, der Krieg sei ein amouröses, romantisches Fliegerabenteuer. Da es ihre Geschichte ist, die in diesem Band erzählt wird, bekommt der Leser auch nur ihre Sicht auf den Krieg präsentiert. Dadurch bleiben viele militärische Details ungenannt oder unverständlich, der Leser erfährt nur das Nötigste – das, was Dora Mars interessiert.
In diesem Band zeigt sich Giroud von seiner besten Seite, ihm gelingen eine überzeugende Hauptfigur und die unterhaltsame Verquickung von Seelenleben und Abenteuerhandlung, von individuellem Schicksal und historischem Konflikt. Intelligent und kenntnisreich wird eine geschichtliche Epoche präsentiert, in der sich Figuren bewegen, die die emotionale Anteilnahme des Lesers sichern. Das Ganze abgerundet mit einer Prise Allgemeinplätze aus Thriller und Abenteuercomic, damit die Lektüre nicht nur anspruchsvoll, sondern auch unterhaltsam wird. Mit solchen Szenarien verdient man sich zu Recht den Max-und-Moritz-Preis.
Die Zeichnungen dazu liefert Cyril Bonin, die auch die Serie Fog (ebenfalls Comicplus+) gezeichnet hat. Während sie dort aber ein düsteres Jack-the-Ripper-London mit fahrigem, verzerrendem Strich evoziert, ist man hier erstaunt, dass sie mit ihrem Stil auch das sonnige Griechenland mit Atmosphäre zu füllen vermag. Die nachlässigen Konturen und eigentümlich verzogenen Gesichter der Figuren passen ausgesprochen gut zu der Geschichte der Kabarettsängerin, erinnern sie doch irgendwie auch an George Grosz und Otto Dix. Die Bilder wirken atmosphärisch, ausdrucksstark, aber nicht aufgeregt, ein schöner, kluger Stil, der weniger beim Überfliegen besticht als beim genauen Hingucken. Beachtenswert ist, dass sich die ordentlich gereihten Panels nur in vier Szenen, die für Dora besonders dramatisch oder erschütternd sind, kurzzeitig auflösen. Da bringen schiefe, unregelmäßige Vierecke die orthogonale Panelordnung genauso durcheinander wie das Geschehen das Leben der Dora Mars.
Als zweiter Band der Serie folgt “Die Geschichte des Alban Méric”, der mit Militär nicht viel anfangen kann, denn von Haus aus ist er Historiker. Mit seinem Burschen, dem griechischen Hirten Manolis, kann er viel mehr anfangen. Er ist die Liebe seines Lebens. Bei einem Schäferstündchen wird das Paar jedoch von Sergeant Grall fotografiert, der den wohlhabenden Méric anschließend mit dem Bildmaterial erpresst. Obwohl Méric ihm das geforderte Geld beschafft, zeigt sich Grall nicht zufrieden. Er möchte noch mehr rauskitzeln. Méric muss sehr einfallsreich werden, um an weiteres Geld heranzukommen. Er lässt sich sogar von den Deutschen gefangen nehmen, um mit seinem Bekannten aus Studienzeiten, dem Major Quantmeyer, einen lukrativen Handel zu machen. Doch die anderen Gefangenen, die mit Hilfe der Sängerin Dora Mars einen Fluchtversuch planen, durchkreuzen seine Pläne … Auch hier soll nicht gespoilert werden.
Die Figur des Alban Méric ist nicht ganz so differenziert wie die der Dora Mars, aber ebenfalls durchaus gelungen. Die Umschiffung von allzu Klischeehaftem gelingt Giroud hier allerdings nicht so gut. Die homoerotische Liebesbeziehung ist zwar schön dargestellt, aber hätt’s nicht auch ein Bäckers- oder Küchenjunge getan? Dass Mérics Schwarm ausgerechnet ein griechischer Schafhirte sein muss, frisch und lockig aus dem süßlichsten Arkadien entstiegen, das ist für meinen Geschmack ein bisschen dick aufgetragen. Die Schmierigkeit des Erpressers Grall verliert an Glaubwürdigkeit, je unersättlicher er wird. Dasselbe gilt auch für die Verzweiflung Alban Mérics, die mit jeder neuen Forderung Gralls größer wird.
Doch abgesehen von diesen Details ist die Story sehr gelungen, vor allem, weil man sie ja im Zusammenhang mit dem ersten Band lesen muss. Da ergeben sich faszinierende, neue Blickwinkel auf bereits bekannte Ereignisse und Figuren.
Schön ist zum Beispiel, dass Méric die Sängerin Mars kaum wahrzunehmen scheint. Ein winziges Detail im ersten Band, eine kleine Unstimmigkeit während einer Quintett-Probe, erfährt hier eine nähere, aber noch nicht vollständige Erklärung. Es gäbe noch mehr schöne Beispiele, aber die würden wieder spoilern …
Die Zeichnungen des zweiten Bandes aus der Feder des altgedienten Paul Gillon sind – vor allem im Gegensatz zu Band eins – sehr ruhig, beschaulich. Das macht sich bei den Hintergründen, vor allem der mazedonischen Landschaft, sehr schön, bei den Figuren führt es aber zu einer gewissen Steifheit. Insgesamt also eher solide und nichts Aufregendes. Es hat vor allem nichts mit dem hippiesken Paul Gillon aus Métal-Hurlant-Zeiten zu tun, der viel dynamischer und sexier war.
Obwohl die Handlungen der einzelnen Bände in sich abgeschlossen sind, entsteht das starke Bedürfnis, weiter zu lesen. Aber nicht, wie es weiter geht, ist hier die Frage, sondern ob das eine oder andere Detail im nächsten Band aufgeklärt oder umgedeutet wird oder nicht. Klug, spannend und unterhaltsam ist diese Erzählweise, das muss man erfreut feststellen.
In jedem Band gibt es am Anfang und am Ende jeweils eine Seite Rahmenhandlung, gezeichnet von Giulio de Vita. Das sollte man der Vollständigkeit halber noch erwähnen. Und: Der Seitenumfang beider Bände beträgt jeweils 64 Seiten. In vielen Katalogen steht fälschlicherweise 84, und die „6“ auf der letzten Seite ist tatsächlich so gedruckt, dass sie wie eine „8“ aussieht.
Die zehn Gebote haben freilich das reißerischere Thema, fahren mit Dan Brownschen Dimensionen auf, was die fiktiven Enthüllungen angeht. Quintett ist da vertrackter, thematisch unspektakulärer, aber genauso unterhaltsam, intelligent und ergreifend erzählt. Und es bietet ein überzeugenderes Konzept. Man muss natürlich abwarten, was die folgenden Bände der Serie (Band 3 ist für Dezember 2006 angekündigt) zu bieten haben. Bisher aber ist kein Grund ersichtlich, warum man Giroud den Max-und-Moritz-Preis wieder aberkennen sollte.
Quintett 1: Die Geschichte der Dora Mars
Comicplus+, Januar 2006
Text: Frank Giroud
Zeichnungen: Cyril Bonin, Giulio de Vita
64 Seiten, farbig, Softcover; 13,- Euro
ISBN: 3-89474-156-2
Quintett 2: Die Geschichte des Alban Meric
Comicplus+, Mai 2006
Text: Frank Giroud
Zeichnungen: Paul Gillon, Giulio de Vita
64 Seiten, farbig, Softcover; 13,- Euro
ISBN: 3-89474-159-7
Quintett 2:
Bildquelle: comiccombo.de