Im siebten Teil unserer Serie zu Vertigos langlebiger Serie Hellblazer über den okkulten Trenchcoat-Detektiv John Constantine sind wir mittlerweile im Jahr 2002 angelangt, in dem Autor Mike Carey die Reihe für gut 40 Ausgaben übernahm.
Keiner weiß mehr, wann es zum ersten Mal erwähnt wurde, aber wahrscheinlich lag die Tatsache einfach in der Luft, dass das Vertigo-Imprint sich mehr und mehr zum „HBO of Comic Books“ entwickelte. HBO, das ist der legendäre Pay-TV-Kanal, der Serien wie The Sopranos, Deadwood, Rome oder Boardwalk Empire am Fließband produziert. Spätestens nach 2000 bewegte sich Vertigo ebenfalls in diesen erzählerischen Strukturen und mitunter wirkte es sehr willkürlich, ob ein Stoff ein Comicbook- oder ein TV-Treatment bekam. Mitunter beschlich einen der Eindruck, als kämen in die Comichefte Stoffe, an denen die Fernseh-Produzenten kein Interesse hatten und manchmal wirkte es, als würden Autoren für Comics nur so lange arbeiten, bis sie den Absprung zu Film und Fernsehen schafften: Brian K. Vaughan oder Mark Millar wären hier als Beispiel zu nennen, wobei nicht vergessen werden sollte, dass beide nie aufgehört haben, auch Comics zu produzieren. Das Fernsehgeschäft hat eben auch seine Zwänge, außerdem sind die Fans über Comics wohl leichter zu bedienen.
Manchmal erwiesen sich diese sehr TV-affinen Comics durchaus als Glücksfall, denn Reihen wie Y: The last man, Scalped oder Fables sind jetzt schon moderne Klassiker, aber viele Vertigo-Serien machten auch den Eindruck, als wären sie der letzte Rest vom Kuchen – Material, das aus gutem Grund nicht realisiert worden ist und dem oft auch in Comicform kein Erfolg beschieden war. Der Vertigo-Leser wurde in den Jahren nach 2000 mit vielen Konzepten bombardiert, aber nur wenige Reihen schafften es über die Nr. 20 hinaus. Viele, vielleicht zu viele Reihen wurden als das nächste große Ding beworben und man hatte als Vertigo-Fan mit breitem Interesse oft das Gefühl, dass sowohl die Kreativität der Macher als auch die Geduld der Leser überstrapaziert und vorzeitig verschlissen wurde. Jamie Delano beispielsweise bezeichnete die Einstellung seiner Serie Outlaw Nation als „the waste of a lot of strong characters and creative energy“.2 Er dürfte nicht der einzige gewesen sein, der so dachte.
Mit dieser Dynamik des Imprints verlor sich sehr schnell die ursprüngliche Vertigo-Vision von erwachsenen Versionen bestimmter DC-Figuren. Hellblazer blieb dabei die Ausnahme von der Regel, man dachte wohl, dass das Imprint nur sicher sei, so lange die Flaggschiffreihe erscheine. Oder, um noch einmal Jamie Delano zu zitieren: „Ravens and the Tower of London, I reckon. Without Hellblazer, Vertigo falls“.3
Dabei war die Serie mitunter bemerkenswert konzeptlos, denn nahezu jeder neue Autor zog die Figur in eine völlig neue Richtung. Der sogenannte erwachsene Ansatz führte eben keineswegs zu einer Erdung der Serie, sondern machte sie zum Spielball der persönlichen Interessen der Autoren und die weitgehende Zurückhaltung von editorischen Vorgaben führte den klassischen Ansatz, Figuren unter wechselnden Autorenteams fortzuschreiben, vollends ad absurdum. Für derart autorenzentrierte Ansätze schien es naheliegender, eigene Serien zu kreieren. Aber man hing an Hellblazer und gab der Reihe ein ums andere Mal eine neue Chance. Nach Brian Azzarello übernahm nun der Liverpuddlian Mike Carey die Autorenschaft.
Hellblazer – Gratest Hits
Mike Carey gelang mit seinem Run so etwas wie die Quadratur des Kreises. Er schaffte es, viele Elemente seiner Vorgänger so zu verknüpfen, dass erstmals der Eindruck von Geschlossenheit innerhalb der Reihe entstand. Gleichzeitig ist sein Ansatz epischer und moderner und arbeitet mit einer Dramaturgie, die auch im modernen Fernsehen funktionieren würde und von der es schwer ist, sich zu lösen, bevor nicht alles fertig erzählt ist.
Die Story beginnt mit Johns Rückkehr nach Liverpool. Er besucht seine Schwester Cheryl, die unter prekären Umständen immer noch mit Tony Masters zusammenlebt, dem Mann, der seine Familie einst in eine radikale christliche Sekte einführte und der für John nur Verachtung übrig hat – was natürlich auf Gegenseitigkeit beruht.
Carey verwendet hier bereits Elemente aus Jamie Delanos frühen Heften und entwickelt daraus einen Plot, der schnell weite Kreise zieht. Gemma, Johns Nichte, ist von zu Hause weggezogen, um als Fremdsprachenassistentin in Frankreich zu arbeiten, aber das stellt sich bald als Lüge heraus: In Wahrheit verkehrt sie in okkulten Zirkeln, um ihrem Onkel nachzueifern. Was John befürchtet und Gemma nicht weiß: Sie wird von ihren neuen Freunden nur missbraucht, um Druck auf John ausüben zu können, und ehe sich John versieht, ist er in einen Machtkampf der Londoner Magie-Logen verwickelt.
Ab hier greift Carey nun stark auf ein Repertoire von Nebenfiguren zurück, das Warren Ellis in „Haunted“ (siehe Hellblazer 1998-2001) eingeführt hat. Es treten auf: Clarice Sackville, eine einflussreiche Hexe des okkulten Londoner Tate-Clubs, Josh Wright, der perverse Magier und Map, ein mächtiger Zauberer, der über die komplette Londoner Infrastruktur herrscht und sich dort bewegt wie ein Geist (daher der Name Map, zu deutsch Stadtplan). Aber auch neue Figuren werden eingeführt, z.B. Domine Frederick, organisierter Verbrecherboss mit Connections zur Magierszene und Ghant, sein geheimnisvoller Berater, der seine Gefangenen foltert, indem er sie nach Belieben zur Hölle fahren lässt und dort gefügig macht.
Zauber und Gegenzauber
Es wird von Anfang an viel gezaubert in dieser neuen Hellblazer-Geschichte und Mike Carey legt erkennbar keinen großen Wert darauf, die Magie plausibel wirken zu lassen. Jederzeit kann am richtigen Ort in die Luft geworfener Staub den Weg weisen und auf den Körper oder auf Türen gemalte Symbole können böse Geister jederzeit bannen oder beschwören. Überhaupt gibt es keine dämonische Aktivität, die sich nicht durch ein magisches Artefakt oder ein Ritual stoppen lässt. Es ist eine Zauberei wie im Indiana-Jones-Film – („Schließ deine Augen, Marion und sieh nicht hin, egal was passiert“) – und sie hat oft die Funktion eines Deus ex Machina.4 Das wirkt oft willkürlich, ist aber geschickt und atmosphärisch erzählt. Nur – wie lange kann diese Herangehensweise in einer Erzählung funktionieren, bevor man die Beliebigkeit durchschaut? Carey löst dieses Problem, indem er einer Geschichte immer bereits das Problem für die nächste Storyline einpflanzt, so dass sich in jeder Geschichte eine neue Tür auftut, welche immer tiefer in ein Geflecht von Verheerungen mündet, die unentwirrbar miteinander verbunden sind. Magie mag zwar jederzeit ein Problem an der Oberfläche beheben, aber die tiefen Verflechtungen bleiben immer und ewig, und John wird trotz seiner vermeintlichen Überlegenheit mehr und mehr den Boden unter den Füßen verlieren, bis ihm außer dem ständigen Chaos nichts mehr bleibt.
Die Verkettung von ungeheuerlichen Ereignissen, die Mike Carey von seinem ersten Heft an betreibt, erinnert in ihrer konsequenten Entwicklung zum Schlimmeren an die Fernsehserie 24 mit Kiefer Sutherland, die ebenfalls mit einem Ausnahmezustand beginnt und danach gnadenlos die Spannungsschraube mit immer weiterer Eskalation anzieht. Aber bei Hellblazer sind es natürlich nicht Terrorismus und nuklearer Holocaust, die drohen, sondern Wahnsinn und Hölle.
Careys erster Zweiteiler, „High on Life“, wirkt zunächst wie eine beliebige „Monster of the Month“-Folge. John Constantine stößt im Wohnblock seiner Schwester Cheryl auf eine bösartige alte Hexe, die das Haus terrorisiert und besiegt sie am Ende mit Magie. Dass die Hexe im Dienst der Okkult-Gangster war, die Gemma in ihrer Gewalt haben, ist für diese Episode nicht von Belang und bleibt eine Randnotiz. Ebenso ist es in der Folgegeschichte „Red Sepulchre“, die vom Bandenkrieg der magischen Zirkel handelt und die mit der Befreiung Gemmas und der Zerschlagung des kriminellen Zirkels endet. „Red Sepulchre“ funktioniert als weitgehend eigenständige Geschichte, aber aus irgendeinem Grund hat Domine Frederick, der Gangsterboss, Visionen von einem monströsen Hund, und natürlich liegt genau hier der Kern der nächsten Geschichte, die Ankündigung der Rückkehr des Shadow Dogs.
Bis es soweit ist, muss Constantine sich allerdings noch mit einigen Vorboten des Unheils herumschlagen, z.B. einem Heer keltischer Geister, die über ein unachtsam geöffnetes Portal in unsere Welt eindringen und Besitz von den Bewohnern eines Dorfes ergreifen. Aber auch deren Totengötter treten sogleich auf, um diese Geister wieder einzusammeln – zum Unglück der Dörfler, die dabei ihr Leben lassen müssen. Die Zauberei erreicht in dieser Geschichte ihren absurden Höhepunkt: John Constantine treibt die Geister aus, indem er die Besessenen mit keltischer Heimaterde bewirft und schließt das Portal, indem er einen Totengott in den Schacht mit dem Portal wirft. Der ganze Unfug dient dann auch nur als eines von mehreren Omen, die die Rückkehr des bereits erwähnten Shadow Dogs ankündigen, einem monströsen Wesen, das Adam und Eva einst aus dem Paradies folgte, als diese vertrieben wurden. Aber ist dieser Hund wirklich das Wesen, dem Adam keinen Namen geben konnte? Denn genau davon geht die Gefahr aus: vom Unbekannten, das man nicht kennt und das keinen Namen hat.
American Gothic Revisited
Carey greift mit dem Erzählmuster der unabhängigen Horrorgeschichten, die allesamt Omen einer größeren Bedrohung sind, das Rezept von Alan Moores Storyline „American Gothic„ wieder auf, der klassischen Swamp Thing-Story, in der John Constantine seinen allerersten Auftritt hatte. So ist es auch kein Zufall, dass gerade jetzt das Swamp Thing seinen ersten Gastauftritt seit vielen Jahren in der Serie Hellblazer hat. John Constantine setzt das mächtige Sumpfmonster ein, um näheres über den rätselhaften Schattenhund herauszufinden und sammelt eine mysteriöse Andeutung nach der anderen ein.
Der letzte Zyklus vor dem großen Showdown mit dem Schattenhund besteht aus drei ineinandergreifenden Kurzgeschichten, die man sicher zu den Höhepunkten der Serie zählen kann. John Constantine reist nacheinander zum Amazonas, in den Iran und nach Tasmanien, um Vorbereitungen für sein letztes Gefecht zu treffen. Alle drei Episoden sind geheimnisvoll und exotisch und John Constantine darf hier eine Rolle spielen, die man vielleicht viel zu selten von ihm gesehen hat: Den Abenteurer und Weltenbummler, der er ja ursprünglich in „American Gothic„ war, und dessen Umgang mit magischen Artefakten auch zum Vergleich mit einem gewissen Archäologen mit Schlapphut und Peitsche einlädt.5 Dazu passt, dass er in diesen Episoden mit seiner neuen Freundin unterwegs ist, der Magierin Angie Spatchcock, einer Art weiblichem Alter Ego unseres Helden, einer Frau, die John in jeder Hinsicht gewachsen ist. Und so sehen wir hier die seltene Variante von Hellblazer als (äußerst gelungenem) Fantasy-Abenteuercomic.
Von nun an ging‘s bergab6
Und dann versammelt John eine Gruppe von Mystikern zur Seance mit dem Ziel, den Schattenhund zu beschwören, einzufangen und zu töten. Die Nerven liegen blank, aber mit vereinten Kräften gelingt es tatsächlich. Leider gelangt erst jetzt die Wahrheit ans Licht: Der einzige, der diesen Hund zu fürchten gehabt hätte, wäre der Namenlose Böse selbst gewesen, denn anders als gedacht, war der Hund nicht die Bedrohung, sondern der einzige Widersacher dieser Bedrohung. Das Böse hingegen war von Anfang an in der Gruppe der Helden eingebettet: Der kleine Bruder von Johns neuer Freundin Angie war besessen von ihm und der Hund attackierte die Gruppe nur, um das Böse zu verjagen. Das war sein gottgegebener Auftrag. Aber nun war der Hund tot und das Böse nistet sich offen ins kollektive Unterbewusstsein der Menschheit ein; und wie der Mensch an jedem Ort ähnliche Mythen und Archetypen hat, hat die Menschheit nun eine neue allumfassende Besessenheit. Eine weltweite Massenhysterie bricht aus. Man kann es die Hölle auf Erden nennen.
Was nun folgt, ist eine bedenkliche Lust am Untergang: Eine Kirchengemeinde kreuzigt ihren Priester, Passanten werden auf offener Straße angezündet, jeder Mensch kann jederzeit zum Sprachrohr des Bösen werden und weltweit bricht Chaos und Gewalt aus. Was folgt, ist ein großer, epischer Endkampf um das Höhere Unterbewusstsein der Menschheit. Die Ansage des Bösen, John bis zuletzt als Zeugen des Untergangs am Leben zu halten, unterläuft John, indem er sich die Pulsadern öffnet – ein bekanntes Motiv aus einem frühen Hellblazer-Heft. Und während seine Freunde, Angie Spatchcock, Gemma und das Ding aus den Sümpfen, Johns Körper am Leben halten, befindet sich Johns Geist in einem Schwebezustand zwischen Leben und Tod und kann so sein letztes Gefecht kämpfen.
Am Ende gelingt das scheinbar Unmögliche. Das Böse wird – natürlich – ausgetrieben und die Ordnung wiederhergestellt. Aber die Sache hat einen bösen Twist. Erstens hat John nach der Rückkehr in seinen Körper sein Gedächtnis verloren, die Strapaze war selbst für ihn zu viel. Zweitens – und das wiegt weitaus schwerer – ist fast alles, was John bisher in Careys aufregender Geschichte erlebt und erreicht hat, Makulatur. Ohne Johns Initiative wäre das Böse nicht in die Welt gekommen und die Welt hätte ihren gewohnten Gang genommen – nicht perfekt, aber gut genug. Damit erhalten auch die einfachen und teilweise unglaubwürdigen Auflösungen der vorhergegangenen Geschichten eine tiefere Bedeutung: Jede magische Handlung ist Show und Blendwerk, und selbst die letzte, verzweifelte Aktion diente nur dazu, den vorherigen Status Quo in beschädigter Form wiederherzustellen. Welchen Wert also hat Magie?
The Downward Spiral7
Es wäre interessant zu wissen, ob es sich um eine künstlerische Entscheidung handelte, genau an dieser Stelle den Zeichner Marcelo Frusin durch Leonardo Manco zu ersetzen, denn es ist ein krasser Stilbruch. Marcelo Frusins Stil ist comichaft, mit klarer Linie, klaren Konturen, klaren Flächen und harten Kontrasten, ideal geeignet zur Illustration des Fantasy-Abenteuers, das Mike Carey bis hierhin erzählt hat. Leonardo Manco dagegen zeichnet realistisch und detailiert, mit Verläufen und Graustufen. Und er zeigt Emotionen in Mimik und Gestik, während Frusin nur ein spärliches Repertoire an Gesichtsausdrücken hatte. Manco kam wie gerufen, um für die letzte Phase des Dramas die Bildregie zu übernehmen, seine Gabe, das nun folgende Grauen in Bilder zu fassen, ist wegweisend.
So ist schon Constantines Unbehagen fast zu greifen, als er durch ein London irrt, das noch stark mit den Folgen des vorhergegangenen Chaos beschäftigt ist. Und sogleich ereignen sich wieder blutige Ereignisse in seiner Gegenwart. Eine mysteriöse, dämonische Frau tritt auf, die ihm die Erinnerung verspricht, sollte er ihr nur 24 Stunden seines Lebens überlassen, aber Constantine ist misstrauisch. Er ahnt, dass diese Erinnerung ihm kein Glück bringen würde und lehnt ab. Er willigt erst ein, als er keine Wahl mehr hat und sein Leben davon abhängt, und sogleich nimmt das Verhängnis seinen Lauf, denn besagte 24 Stunden nutzt die dämonische Frau, um John falsche Erinnerungen einzupflanzen.
In der ersten Erinnerung hat er mit Kit, seiner Freundin aus dem Ennis-Run, einen Sohn. Für John ist die Illusion perfekt, er glaubt tatsächlich, da angekommen zu sein, wo er herkommt, aber just an dem Tag, an dem die Geschichte einsetzt, wendet sich die Idylle. Mysteriöse Tode erschüttern seine vertraute Umgebung und sein kleiner Sohn zeigt sein wahres, dämonisches Gesicht. John verliert das Bewusstsein und findet sich in einer weiteren fingierten Realität, in der er ein Kind mit seiner ehemaligen Gespielin Zed hat. Auch hier entpuppt sich das Kind als Feind, und wieder werden Jahre glücklicher, aber niemals stattgefundener Erinnerung auf den Kopf gedreht. Und das Spiel wiederholt sich ein drittes Mal: Wieder ist John glücklich, diesmal mit Angie Spatchcock, und wieder ist sein Kind ein Monster in Menschengestalt, aber als John diesmal aus seinem Alptraum erwacht, sind die 24 Stunden um und er ist endlich wieder sein wahres Selbst. Allerdings ist seine Wahrnehmung inzwischen so oft auf den Kopf gestellt worden, dass er buchstäblich nicht mehr weiß, wo oben und wo unten ist.
Die dämonischen Kinder indes sind real. Die Dämonin Rosacarnis hat Constantine als würdig empfunden, ihre Kinder zu zeugen und verwendet diese nun als Mittel zum Zweck, den Vater zu zerstören, indem diese seine soziale Existenz vernichten. Die bösen Kinder machen sich sogleich mit Feuereifer daran, Johns alte Bekanntschaften auszulöschen, während dieser noch mit sich selbst beschäftigt ist.
Die Geschichte, die sich nun entspinnt, ist äußerst intensiv und spannend und konzentriert sich auf den innersten Kreis des Hellblazer-Mikrokosmos, auf engste Freunde und Familienmitglieder. In vielerlei Hinsicht sind sein Fahrer Chas, seine Nichte Gemma und seine Schwester Cheryl das Herz und die Seele der Reihe, denn ohne diese Bezugspersonen wäre John wohl nur eine Hülle seiner selbst. Nicht umsonst wurde in den besten Hellblazer-Runs stets Bezug auf die familiären Verflechtungen genommen. Ohne sie ist John als Figur austauschbar und uninteressant.
Ohne große Details der Handlung nacherzählen zu wollen werde ich nun nur die wesentlichen weiteren Entwicklungen nennen:
- Chas wird von einem Dämon besessen und zeitweise durch diesen gelenkt. Als dieser den Wirtskörper wieder verlässt, bleibt die Seele von Chas zunächst vergiftet. Chas‘ niedere Instinkte und seine aufgestauten Aggressionen gewinnen zeitweise die Oberhand und er schlägt seine Ehefrau Renee, die ihn stets vor Constantine gewarnt hat. Später, als er wieder sein echtes gutmütiges Ich ist, wird er sich mit Grauen an die Befriedigung erinnern, die er beim Ausleben seiner inneren Triebe hatte. Renee verlässt ihn und Chas kündigt John endlich die Freundschaft auf.
- Gemma und Angie Spatchcock werden beide von den dämonischen Kindern gejagt. Beide Frauen wissen sich zu helfen und sie können entkommen, wenn auch knapp.
- Böse hingegen geht es für Cheryl und Tony Masters aus. Tony Masters, dessen religiöser Eifer schon immer einherging mit der Hochmut, ein besserer Mensch zu sein als der Rest der Welt, erscheint ein Engel, der ihn in seinem Wahn bestätigt und diesen zementiert. Der Engel, natürlich ein Trugbild, befiehlt ihm, für seinen Gott seine Ehefrau zu opfern. Als John mit seinen Gefährten eintrifft, ist es bereits zu spät, Cheryl ist tot. Später wird Tony seine Verblendung erkennen, sich richten und selbst zur Hölle fahren.
Von hier ab kämpft Constantine um das Leben und die Seele seiner Schwester Cheryl. Er erhält Hilfe vom Dämon Nergal, der in Fehde ist mit Rosacarnis, die tatsächlich seine Tochter ist (auch in der Hölle gibt es Familien und – in diesem Fall – Dynastien). Nergal war es, von dem Chas zeitweise besessen war, und auch jetzt spielt er ein böses Spiel. Nergal überredet John, mit ihm in die Hölle zu ziehen, um Cheryls Seele einzusammeln. John ahnt nicht, dass es Nergal selbst ist, der Cheryls Seele vor ihm verbirgt.
Dieser letzte epische Zyklus über Nergals Machtkampf in der Hölle endet mit einer Intervention des Teufels höchstselbst. Der „First of the Fallen“ tötet zunächst Rosacarnis und die bösen Kinder und zwingt Nergal dazu, Cheryls Seele freizugeben. Aber der Teufel ist kein Friedensstifter. Er nutzt seine Macht, um John ein letztes Mal zu demütigen, denn inzwischen hat er auch Tony Masters‘ Seele in seiner Hand. Also stellt er Cheryl vor die Wahl, entweder gemeinsam mit Tony die Ewigkeit in der Hölle zu verbringen, oder alleine zurück ins Leben zu gehen:
„This is a dream about hell. Just like the dream you used to have about being alive. […] True, if you stay here, you’ll be tortured forever in endlessly varied ways. That’s the down side. But whom God hath joined together, let no man put asunder. […] He died about an hour ago, if you’re interested. In despair, and with blood on his hands, so he’s mine twice. The bottom line? A trouble shared is a trouble halved. Stay with him, and I’ll divide his torments fairly between the two of you. Or leave him to his fate. Your choice.“8
Cheryl entscheidet sich für die Liebe.
Aus und vorbei!
Johns Schwester zog es also tatsächlich vor, ihrem kranken und verwirrten Ehemann auch in schwärzester Nacht beizustehen und handelt damit völlig entgegen dem Lebensentwurf Constantines, der die Dinge stets zu seinem Vorteil hinbiegt. Und da auch das Verhältnis zu Gemma danach selbstverständlich zerrüttet ist und auch Chas nie wieder etwas mit ihm zu tun haben möchte, hat John wirklich alles verloren und ist tatsächlich nur noch eine hohle Hülle seiner selbst.
„Was hülfe es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne und nähme doch Schaden an seiner Seele?“ steht in der Bibel, und Careys Run wirkt tatsächlich wie ein fernes Echo dieses ewig gültigen Satzes.
Aber Careys Constantine-Geschichte ist noch nicht ganz zu Ende erzählt: Als nächstes vernichtet er seine kompletten magischen Lagerbestände, danach willigt er ein, auf der Jubiläumsfeier vor den Zauberern des Londoner Tate-Clubs eine Festrede zu halten. Er ist angewidert von seinen Fans, die ihn cool finden und die sein möchten wie er, und so hält er in seiner Festrede eine klare (und ziemlich durchdachte) Absage an die Magie, weil sie stets lebensfeindlich ist und weil sie in ihrer Essenz stets den natürlichen und sinnvollen Weg der Dinge umdreht.
Es ist wohl Temperamentsache, ob man einer fiesen Dämonencomicserie wie Hellblazer tatsächlich Lebensweisheiten entnehmen möchte, aber eines muss man Careys Geschichten zugestehen: Die Gefühle der Figuren sind wahrhaftig und schlüssig ausgearbeitet, und wer gewalttätige Familienverhältnisse und Suchterfahrungen kennt, hat vielleicht am eigenen Leib erfahren, dass es Dämonen gibt, mit denen man unter Umständen ein Leben lang zu kämpfen hat. Es gibt Störungen, die sich der Ratio des gesunden Menschenverstandes entziehen und die auch weit über die betroffene Person hinaus ihrer Umgebung schaden und die Umwelt vergiften. Careys Hellblazer kann wie eine Chiffre solcher Zustände gelesen werden, ein Dark-Fantasy-Roman, der sowohl auf Text- als auch auf Metaebene funktioniert und alle Register zieht.
Am Ende beweist John den Mitgliedern des Tate-Clubs, dass alle Magie schädlich ist. Wohlwissend, dass er damit die allerletzten Brücken zu seiner Vergangenheit abbrennt, geht er ins ungewisse Dunkel, wo die Geister seiner alten Freunde stehen. Ein vertrautes Bild, denn sie sind seine ewigen Begleiter. Und dann beginnt es zu regnen, und natürlich ist die Nässe in seinen Augen keine Tränen. Ganz sicher nicht.
Carey hat das perfekte Ende für die Serie inszeniert. Selten war der Abschluss einer Serie durchdachter und besser ausgearbeitet – und irgendwie grenzt es schon fast an ein Sakrileg, dass schon einen Monat später ein neues Heft von einem neuen Autor erschien, was dem Schluss das entscheidende Moment nimmt. „The show must go on“ würde ein Amerikaner wohl sagen, „no rest for the wicked“ ein Engländer.
Sieben weitere Jahre sollte die Serie noch laufen.
1 Überschrift des Artikels: Textzeile des Songs „Heaven and hell“, Ronnie James Dio, 1980.
2 „ […] die Vergeudung von vielen guten Figuren und einer Menge kreativer Energie.“ Zitiert von http://www.sequentialtart.com/archive/dec01/delano.shtml, 24.11.2013
3 „Ich denke, es ist wie mit dem „Tower of London“ und seinen Raben. Ohne Hellblazer fällt Vertigo.“ Zitiert von http://www.comicvine.com/profile/jonny_anonymous/blog/hellblazer-is-ending-what-the-writers-think/86338/, 24.11.2013
4 „Heute bezeichnet man mit Deus ex Machina – in Literatur und Alltag – meist eine unerwartet auftretende Person oder Begebenheit, die in einer Notsituation hilft oder die Lösung bringt.“ Zitiert von http://de.wikipedia.org/wiki/Deus_ex_machina, 24.11.2013
5 Indiana Jones, wer sonst.
6 Songtitel von Hildegard Knef, 1967
7 Songtitel von Nine Inch Nails, 1993.
8 „Dies ist ein Traum von der Hölle, genauso, wie du bisher schon dein Leben geträumt hast. […]
Natürlich, solltest du hier bleiben, wirst du bis in alle Ewigkeit auf unerdenklich vielfältige Weise gequält werden, das wird sich nicht vermeiden lassen. Doch was Gott zusammengeführt, das soll der Mensch nicht trennen. […] Er ist vor etwa einer Stunde gestorben, falls es dich interessiert, in Verzweiflung und mit Blut an seinen Händen, so dass er zweimal mir gehört. Unterm Strich aber bleibt geteiltes Leid immer halbes Leid. Bleibe bei ihm und ich werde die Qualen gerecht zwischen euch beide aufteilen. Oder überlasse ihn seinem Schicksal. Es ist deine Entscheidung.“, aus Hellblazer 212, Carey, Manco, DC Comics 2005
Zu Teil 1: Die Anfänge in Swamp Thing
Zu Teil 2: Die ersten Hellblazer-Hefte von Jamie Delano
Zu Teil 3: Die Garth-Ennis-Jahre
Zu Teil 4: Die Paul-Jenkins-Jahre